Was man so lesen könnte…

Kürzlich wurde ich von einem Praktikanten, der ein VWL-Masterstudium erwägt, nach Bücher-Empfehlungen zum Thema „Ökonomik“ gefragt. Tatsächlich wurde mein Denken über Ökonomik bzw. über Menschen und Gesellschaft durch die Lektüre vieler verschiedener, oft nicht mal im weiteren Sinne ökonomischer Bücher geprägt. Und da vielleicht jemand etwas davon hat, beschloss ich, die Bücher, die mein Denken besonders geprägt haben, mal gebündelt zu besprechen.

Wem eine Liste mit kurzen Kommentaren reicht, der wird unter diesem Link fündig (obwohl ich unten ein paar Positionen ergänze, die dort nicht auftauchen). Außerdem habe ich vor einer Weile zwei Themen auf Basis von jeweils ein paar Büchern gesondert besprochen: Entfremdung als prägendes Merkmal moderner Gesellschaften und die menschliche Fähigkeit zum Bösen. Auf Belletristik werde ich hier ebenfalls nicht eingehen – zu ihrer Bedeutung für Sozialwissenschaft habe ich bereits einen längeren Beitrag geschrieben (dem ich lediglich ein weiteres – extrem zum Denken anregendes – Buch hinzufügen möchte, nämlich Ursula K. LeGuins The Dispossessed). Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass ich viele der unten angesprochenen Bücher ursprünglich in einem Twitter-Thread gesammelt habe:

Wo fange ich an? Wie schon beim oben eingefügten Twitter-Thread, am besten bei dem Buch, das mich zur Ökonomik brachte: Amartya Sens Development as Freedom. Es ist weder Sens wichtigstes noch sein bestes Buch (obwohl es wohl das bekannteste ist); es hat mir aber damals, 2008, gezeigt, dass Ökonomik mehr sein kann, als die Suche nach monetärem Reichtum (ja, ich hatte damals eine sehr vulgäre Vorstellung von der VWL, obwohl ich Wirtschaftswissenschaften im Nebenfach studierte). Doch auch wenn ich Ökonomik für mich entdeckt habe, weicht mein Verständnis von und meine Faszination für diese Disziplin von der „echter“ bzw. „richtiger“ Ökonom*innen ab. So werden in diesem Beitrag auch (fast) keine Bücher über ökonomische Methoden auftauchen – etwas, was für die meisten Mainstream-Ökonom*innen die Ökonomik definiert. Die wenigsten hier besprochenen Bücher wurden von Ökonom*innen im engeren Sinne geschrieben. Denn mir geht es ums Verstehen, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – also eigentlich um Sozialwissenschaft allgemein.

Zurück zu Sen, von dem ich einige Bücher und zahlreiche Aufsätze gelesen habe. Die zwei für mich wichtigsten (inhaltlich, nicht „biografisch“ [s. oben]) sind: zum einen sein magnum opus, in dem er die vielen ethischen und ökonomischen Fäden seines Denkens im Kontext einer Theorie der Gerechtigkeit bündelt: The Idea of Justice. Es war meine erste bewusste Begegnung mit deliberativer Demokratie, zu der wir noch kommen werden. Das andere Buch von Sen, das ich gern hervorheben möchte, befasst sich mit der Frage der multiplen Identitäten, die Menschen haben – als Bürger*innen eines Staates, Angehörige einer Ethnie und einer Berufsgruppe, Fans einer Musik-Band, Mitglieder einer Organisation, Gläubige etc. Identity & Violence: The Illusion of Destiny ist zugleich ein Versuch, gegen den Fatalismus der Samuel Huntington’schen Theorie vom clash of the cultures anzukämpfen (kann übrigens gut mit Paul Scheffers Die Eingewanderten kombiniert werden).

Was Amartya Sen auszeichnet und was ich an ihm schätze – er ist Ökonom, Träger der Nobelgedenkpreises für Ökonomik. Und gleichzeitig ist er vielmehr als nur Ökonom. Ähnlich sieht es mit zwei weiteren Denkern aus (sehr viele der hier besprochenen Autor*innen sind Männer, fällt mir auf), die mein Denken stark geprägt haben: Albert O. Hirschman und Jon Elster. Hirschman ist den meisten Ökonom*innen ein Begriff, unter anderem wegen seines Konzepts des exit & voice aus dem sehr lesenswerten Buch Exit, Voice and Loyalty, in dem er sich über die Grenzen des damaligen state of the art der ökonomischen Theorie wagt, um genuin ökonomische Phänomene reichhaltiger beschreiben und erklären zu können (ein anderes interessantes Buch von ihm, das gewissermaßen exit & voice im Kontext politischen Engagements diskutiert, ist Shifting Involvements). Jon Elster hingegen ist den meisten Ökonom*innen wohl eher unbekannt, auch weil er im Gegensatz zu Hirschman nicht wirklich als Ökonom bezeichnet werden kann – aber auch nicht wirklich als Philosoph oder Soziologe, was die anderen naheliegenden Optionen wären… Unabhängig von der Schublade, Elsters Überlegungen zu Rationalität, Präferenzen, freiwilliger Einschränkung der Handlungsfreiheit (insbesondere in Sour Grapes sowie Ulysses Unbound) sowie zum impliziten Gerechtigkeitsverständnis in alltäglichen Institutionen (Local Justice) sind nicht nur höchst innovativ und zum Denken anregend, sondern auch gerade für die Ökonomik von höchster Relevanz (ein Beispiel findet man hier im Kontext des Auseinanderklaffens von Rhetorik und Handeln bei Konsument*innen von Lebensmitteln).

Doch zurück zur Ökonomik als solcher. Was in den meisten VWL-Studiengängen fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit den dogmengeschichtlichen, wissenschaftstheoretischen, ethischen und, allgemeiner, philosophischen Grundlagen dieser Disziplin. In diesem Kontext habe ich von einer Reihe von Büchern profitiert – Fritz Söllners Die Geschichte des ökonomischen Denkens und Heinz Kurz’ Geschichte des ökonomischen Denkens ergänzen sich sehr gut (ja, der bestimmte Artikel ist der einzige Unterschied zwischen den beiden Titeln); Ersteres ist deutlich umfassender und detaillierter, während Letzteres aufgrund des typischen Formats der C. H. Beck Wissen-Reihe deutlich „schärfer“ sowie kritischer ist. Mark Blaug bietet in seiner Methodology of Economics eine sehr stark von Imre Lakatos’ post-Popperianischer Wissenschaftstheorie geprägte Diskussion dessen, „how [mainstream] economists explain“ (so der Untertitel des Buchs). Besonders empfehlenswert: die Diskussion der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie. Einen recht umfassenden und sehr interessanten Überblick über die philosophischen Grundlagen der Mainstream-Ökonomik findet man in Julian Reiss’ Philosophy of Economics; wen speziell die Wohlfahrtstheorie und ihre utilitaristischen Fundamente interessieren, dem sei das von Amartya Sen und Bernard Williams herausgegebene Utilitarianism and Beyond empfohlen (unter anderem mit einem herrlichen Angriff von Partha Dasgupta auf Friedrich Hayek, einer Kurzversion von Sour Grapes von Jon Elster und Beiträgen führender Denker aus dem Umfeld der Mainstream-Ökonomik wie Frank Hahn oder John Harsanyi). Zuletzt sei hier The Skeptical Economist von Jonathan Aldred erwähnt, das sich vor allem mit den ethischen Grundlagen der Ökonomik befasst, deren Existenz Ökonom*innen wenn nicht leugnen, dann häufig zumindest ignorieren (Aldred verdanke ich viele gute Argument für Diskussionen mit „Steuern sind Diebstahl“-Menschen).

Damit verlassen wir allmählich den Bereich „Bücher, die im engeren Sinne mit Ökonomik zu tun haben“ und betreten den Bereich „Bücher, die den Möchtegern-Ökonom Bartosz B. geprägt haben, aber nicht wirklich als ökonomisch zu bezeichnen sind“. Einen Übergang schafft hier wohl Fred Hirsch’ Social Limits to Growth, das teils in der Tradition der Veblen’schen alten Institutionenökonomik steht. Hirsch’ Fokus liegt dabei auf der Existenz von sog. Positionsgütern, also solchen, die nur ihren Wert haben bzw. ihren Zweck erfüllen, wenn sie von Wenigen konsumiert werden – und zwar über den Veblen’schen Geltungskonsum hinausgehend und solche überraschenden Güter umfassend wie das Wohnen in Vorstädten oder höhere Bildung. Hirsch schrieb sein Buch übrigens gewissermaßen als „Antwort“ auf den berühmten Club-of-Rome-Bericht Limits to Growth (er hielt die von ihm beschriebenen Phänomene für in ihren potenziellen Folgen weitreichender).

Die Ökonomik betrachtet die Welt recht mechanistisch; sie ist interessiert an „if–then“-Zusammenhängen, während sie die Frage nach dem „Warum (handeln Menschen und funktionieren Gesellschaften so wie sie es tun)?“ den anderen Sozialwissenschaften überlässt, insbesondere der Psychologie und Soziologie. Beim Menschen als Individuum ist das seit dem Aufstieg der Verhaltensökonomik nicht ganz so gravierend – hier ist Daniel Kahnemans Thinking, Fast and Slow ein sehr gut geschriebenes, umfassendes und bei der ersten Begegnung mit der Thematik faszinierend–schockierendes Buch (als ich später Thalers und Sunsteins Nudge gelesen habe, hielt sich die Begeisterung hingegen in Grenzen). Doch wenn es um das Verhalten von Kollektiven, gerade in der Moderne geht, muss man auf der Suche nach Erkenntnis über den ökonomischen Tellerrand schauen. Zum Beispiel in Liquid Modernity von Zygmunt Bauman, mit seiner scharfsinnigen Betrachtung der Spannungen, die die zunehmende Abkehr von gesellschaftlichen Gewissheiten, die ständige Beschleunigung (dazu s. auch Future Shock von Alvin Tofler) der gesellschaftlichen Entwicklung und moderne Technologien mit sich bringen. Oder, um eine ganz andere Perspektive auf kollektives Verhalten zu erwähnen – ich habe sehr viel (Erschreckendes) aus Haralz Welzers Täter gelernt (dazu habe ich schon ausführlich hier geschrieben).

Doch wie kamen wir hierher, wo wir sind, und warum so? Zwei Bücher, die sich mit derartigen Fragen befassen, möchte ich hier erwähnen – zum einen Angus Deatons The Great Escape (doch wieder ein Ökonom), in dem er auf die riesigen Fortschritte der letzten ca. 200 Jahre schaut sowie auf die weiterhin großen Versäumnisse, gerade was Ungleichheit anbetrifft. Viel weiter zurück schaut Jared Diamond in Guns, germs and steel (ein viel besserer Titel als das deutsche Arm und reich) – kein Ökonom –, der sich die Frage stellt, warum verschiedene Weltregionen sich so unterschiedlich entwickelt haben, also warum bspw. die Aborigines zum Zeitpunkt der Ankunft der Europäer in Australien kaum die Steinzeit hinter sich gebracht hatten. Ähnlichen Fragen ging der Wirtschaftshistoriker David S. Landes in seinem Wealth and Poverty of Nations – doch Landes’ Erklärung war essentiell „wegen kultureller Unterschiede“, während Diamond auf sehr interessante Weise Geographie, Biologie und Anthropologie bemüht, um zu erklären, woher diese kulturellen Unterschiede kamen.

Je länger ich schreibe, desto schwieriger fällt es mir, die Übergänge zwischen den verschiedenen Büchern bzw. Gruppen von Büchern hinzubekommen. Man verzeihe mir also, dass ich nun von Jared Diamond zur Philosophie springe. Wobei ich anmerken sollte, dass meine „philosophischen“ Abenteuer sehr idiosynkratisch und wenig repräsentativ sind (um ehrlich zu sein, trifft das auf alles hier besprochene zu). Vieles, was ich gelesen habe, lässt sich der Sozialphilosophie zuordnen – da kann ich insbesondere Hartmut Rosas Resonanz (ein Buch, dem gegenüber ich sehr skeptisch war – ich fand aber beim besten Willen keine größeren Schwachstellen in seiner sehr interessanten Argumentation) und Rahel Jaeggis Entfremdung empfehlen (denen ich bereits einen Beitrag gewidmet habe), sowie zum Thema politische Philosophie und (deliberative) Demokratie Jürgen Habermas’ Faktizität und Geltung. Zu Letzterem sollte ich ergänzen, dass ich nicht weiß, ob ich FuG verstanden hätte, ohne mich vorher durch Theorie des kommunikativen Handelns gequält zu haben, das ich so richtig erst auf den letzten 100 Seiten verstanden habe (wie ich dahin kam – immerhin ist das Buch insgesamt [2 Bände] über 1500 Seiten lang – ist mir bis heute nicht klar). Ich habe von Habermas enorm viel gelernt und Anregung bekommen (z. B. zum Verhältnis von repräsentativer und deliberativer Demokratie oder zum Ursprung von Spannungen in modernen kapitalistischen Gesellschaften) – aber wenn dieser Mensch irgendwas nicht kann, dann ist es, knapp und verständlich seine Gedanken zu formulieren… Viel besser kann dies, und das sei meine letzte philosophische sowie die letzte Empfehlung überhaupt, John Stuart Mill – dessen On Liberty vermutlich auf ewig ein Klassiker des liberalen, (selbst-)skeptischen politischen Denkens bleiben wird, ob der Stärke der Argumente wie der Klarheit ihrer Formulierung.

Zum Schluss möchte ich noch eines ergänzen: manche der oben besprochenen Bücher forderten mein Denken heraus, zwangen mich zum Umdenken; die meisten von ihnen bestätigten mich aber, ergänzten „höchstens“ neue Ideen, die sich in mein Weltbild einfügten und dieses strukturierten. Ich halte es aber für mindestens genauso wertvoll, mich hin und wieder Büchern auszusetzen (und sie nicht nach 50 Seiten entnervt wegzulegen), deren Argumentation ich gerade nicht zustimmen kann bzw. will. Hierfür habe ich leider keine konkreten, besonders wertvollen Empfehlungen, weil das eine deutlich individuellere Sache ist, aber ich glaube fest daran, dass man mit nur Sen und Hirschman und Elster und Habermas nicht weit kommt.

3 Gedanken zu “Was man so lesen könnte…

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