Resonanz und Entfremdung

2018 war für mich das „Jahr der dicken Bücher“. Ich habe einige gelesen, für die ich fast schon beschämend lange gebraucht habe – die sich aber dennoch mit Freude und großem Erkenntnisgewinn lesen ließen. Besonders spannend war es, Hartmut Rosas Resonanz und Rahel Jaeggis Entfremdung nacheinander zu lesen. Nicht nur, weil sie ein sehr ähnliches Kernthema – das Phänomen der „Entfremdung“ – haben, sondern auch, weil sie sich gegenseitig aufeinander beziehen. Während Rosa die erste Ausgabe von Entfremdung rezipiert, antwortet Jaeggi ihm im Nachwort der von mir gelesenen zweiten Ausgabe. Zusammen ergeben die beiden Bücher ein faszinierendes Bild eines nicht nur philosophischen, sondern auch genuin gesellschaftlichen Phänomens.

EntfremdungDas Besondere an dem Konzept der Entfremdung ist, dass es nicht nur ein theoretisches Konzept ist oder bleibt – es hat durchaus gesellschaftliche Relevanz. Das merkte ich beim Lesen der beiden Bücher – denn ich reflektierte nicht nur über die Sinnhaftigkeit, Kongruenz und Plausibilität der theoretischen Argumente, sondern bezog die einzelnen Aspekte immer wieder auf das eigene Leben und Empfinden sowie auf gesellschaftliche Phänomene, die ich um mich herum beobachte (auch in meinem unmittelbaren sozialen Umfeld, d. h. Freundeskreis und Familie). In diesem Sinne ist „Entfremdung“ ein sozialphilosophisches Konzept par excellence – denn die Sozialphilosophie ist eine ungewöhnlich stark auf das Praktische, auf die Analyse und Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse orientierte Disziplin der Philosophie, ganz im Sinne des Marx’schen Ausspruchs, dass es nicht nur darauf ankommt, die Welt zu verstehen, sondern sie auch zu verändern. Und Entfremdung ist ein Konzept, das bei der Analyse und Bewertung vieler problematischer Erscheinungen der Moderne sehr hilfreich sein kann – bis hin zur Entwicklung von Gegenstrategien.

ResonanzBeide Bücher, insbesondere aber Jaeggis,1 bauen auf einer umfassenden Kritik des Entfremdungsbegriffs bzw. älterer Theorien der Entfremdung auf – beginnend spätestens mit Jean-Jacques Rousseau (auch wenn er diesen Begriff nicht verwendete), über den jungen Karl Marx sowie Martin Heidegger bis hin zu Vertretern der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, und da insbesondere Theodor Adorno und Herbert Marcuse (der „Heidegger’sche Marxist“). Auch wenn die Gründe für die Kritik vielfältig sind, geht es im Kern fast immer darum, dass „Entfremdung“ einen normativ wünschenswerten Zustand von Nicht-Entfremdung impliziert – und dieser wurde von den meisten Entfremdungstheoretikern, ob Existenzialisten (Heidegger) oder Marxisten (Marx selbst, Adorno, Marcuse), essentialistisch interpretiert. Das heißt, eine entfremdete Person weiche von einem idealen „Urzustand“ („Wesen“) des Ichs und seines Verhältnisses zur Welt ab. Im Extremfall, bei Marcuse, muss sie sich dessen gar nicht bewusst sein: man glaubt, glücklich zu sein, ist aber in Wirklichkeit entfremdet. Die problematischen Implikationen einer solchen Sicht liegen auf der Hand und sind einer der Gründe, warum das Konzept der Entfremdung für eine längere Zeit weitgehend aus dem sozialphilosophischen Diskurs verschwand.

Nun versuchen sowohl Jaeggi als auch Rosa, den analytisch enorm reichhaltigen Begriff der Entfremdung zu „retten“, indem sie ihn nicht-essentialistisch uminterpretieren. Doch bevor wir dazu kommen, stellt sich die Frage: was ist Entfremdung überhaupt? Und wovon kann man sich denn „entfremden“?

Grundsätzlich handelt es sich bei „Entfremdung“ (sowie bei dem von Rosa vorgeschlagenen Gegenbegriff der „Resonanz“) um eine Eigenschaft des Verhältnisses des Individuums zu sich selbst sowie zur (sozialen) Außenwelt. Entfremdung gilt dabei als inhärent „modernes“ Phänomen, das eng mit der Komplexität gesellschaftlicher Systeme zusammenhängt. So bezeichnet Jaeggi Entfremdung als ein „verhindertes Aneignungsverhältnis“ und arbeitet mit vier stilisierten Entfremdungserscheinungen:

  • Gefühl von Machtlosigkeit und Verselbstständigung des eigenen Tuns
  • Rollenverhalten und Authenzitätsverlust
  • innere Entzweiung bzw. Widersprüche in der Selbstwahrnehmung
  • Indifferenz und Selbstentfremdung

Dabei geht sie wie Rosa davon aus, dass Entfremdung weder ein rein „individuelles“ noch ein rein „soziales“ Phänomen ist – aus der einfachen, für die Sozialphilosophie grundlegenden Erkenntnis heraus, dass es kein Individuum ohne Gesellschaft geben kann und anders herum. Ein (gestörtes) Verhältnis zur Außenwelt impliziert immer ein (gestörtes) Verhältnis zu sich selbst und vice versa. In einer klassischen Unterscheidung nannte Marx zwei Dimensionen von Entfremdung: (i) die Unfähigkeit, sich mit seinem eigenen Tun zu identifizieren sowie (ii) die Unfähigkeit, über sein eigenes Tun Kontrolle auszuüben. Dabei betonen Jaeggi und Rosa bezüglich der zweiten Dimension, dass es sich bei Entfremdung mitnichten um Fremdbestimmung handeln muss – gerade bei der oben erwähnten „Verselbstständigung des eigenen Tuns“ kann es sich um Pfadabhängigkeiten und ähnliche Phänomene handeln: Wir treffen in unserem Leben Entscheidungen, die unseren künftigen Handlungsspielraum einschränken, ohne diese Einschränkungen vorherzusehen und im Entscheidungsprozess zu berücksichtigen. In anderen Fällen nehmen wir alternative Handlungsoptionen gar nicht mehr wahr, die von außen betrachtet durchaus noch vorhanden wären – und fühlen uns dementsprechend nicht mehr wirklich selbstbestimmt oder „autonom“. Wir tun, was uns unvermeidlich und alternativlos erscheint.

Der Hauptbeitrag von Rahel Jaeggis Analyse liegt darin, den Entfremdungsbegriff auf eine überzeugende Art und Weise so umzuinterpretieren, dass er nicht mehr auf ein Konzept des „wahren Wesens“ des Menschen angewiesen ist, sondern vielmehr die Form der „immanenten Kritik“ annimmt, die prozessorientiert ist – im Fokus ist also weniger ein „Ergebnis“ (z. B. ein nicht seinem Wesen entsprechender Mensch), sondern vielmehr die Prozesse der Interaktion mit sich selbst und mit der Welt. Es ist dabei das Individuum selbst, das in dem Versuch, sich die Welt „anzueignen“, zu ihr (und damit zu sich selbst) ein Verhältnis aufzubauen, scheitert. Das heißt aber nicht, dass die Lösung wäre, Fremdbestimmung abzuschütteln, keine Rollen mehr zu spielen, sich für das „wahre Ich“ zu entscheiden und „fremde“ bzw. inauthentische Elemente der eigenen Persönlichkeit abzuwerfen/zu überwinden, „zu sich selbst zu finden“. Vielmehr besteht die jeweils individuelle Lösung darin, die verschiedenen (sozialen) Einflüsse, Rollen, Wünsche und Triebe so auszubalancieren, dass man ein – in Rosas Worten – „resonantes“ Verhältnis zu Welt hat, eines, das uns berührt bzw. nicht „kalt lässt“, in dem wir „in Übereinstimmung mit unseren starken Wertungen handeln, wo unsere kognitiven und evaluativen Landkarten mit unserem Handeln oder Sein kovergieren“ (Rosa 2018, S. 291). Einfacher ausgedrückt: ein resonantes Verhältnis haben wir, wenn das, was wir tun und erleben, uns auch etwas bedeutet.

Sowohl Rosa als auch Jaeggi betonen dabei, dass Entfremdung (und Resonanz/Aneignung2) ein Konzept ist, dass einen hohen analytischen Wert hat. Es hilft, viele soziale Phänomene (post-)moderner Gesellschaften zu erklären, und ist dabei sehr flexibel einsetzbar. Gerade Rosa zeigt dabei anhand vieler Beispiele, dass „Resonanz […] das Versprechen der Moderne[ bleibt], Entfremdung aber […] ihre Realität[ ist]“. Die Welt ist scheinbar kleiner, erreichbarer, reichhaltiger geworden – dank modernen Technologien wie Internet, Flugreisen, aber auch dank demokratischen Freiheiten und dem Wohlstandsniveau zumindest des globalen Nordens, die uns erlauben – ja, verheißen –, Einklang mit uns selbst und der Welt zu finden, hochwertige soziale Beziehungen aufzubauen, erfüllender Arbeit nachzugehen, die Welt zu erfahren, wie unsere Vorfahren es nicht vermochten. Und doch funktioniert es nicht – viele Menschen sind depressiv, verfügen eben über keine tiefgründigen zwischenmenschlichen Beziehungen, sind zunehmend politikverdrossen, vertrauen nicht einander, haben das Gefühl, dass vieles in der enorm komplexen modernen Welt „ohne sie“ bzw. „neben ihnen“ passiert. Während die Philosophin Jaeggi vor allem zeigt, warum Entfremdung ein sozialphilosophisch und gesellschaftsanalytisch relevanter Begriff ist, der sich nicht-essentialistisch verwenden lässt, entwickelt der Soziologe Rosa das Konzept weiter und zeigt, wie umfassend hilfreich das Begriffspaar Entfremdung/Resonanz sein kann, solche Phänomene zu analysieren und auch normativ zu bewerten.

Während ich Rosas Buch las, war ich von Anfang an skeptisch: zum einen hat „Resonanz“ einen Hauch des Esoterischen; zum anderen wird es von Rosa auf so viele verschiedene Phänomene angewendet, dass man sich fragt, ob eine solche „Allzweckwaffe“ wirklich hilfreich sein kann, einzelne konkrete Erscheinungen zu analysieren. Doch trotz dieser Skepsis ist es mir nicht gelungen, nennenswerte „Löcher“ und Schwachstellen in Rosas (und Jaeggis) Argumentation zu finden. Selbst da, wo bei mir Zweifel aufkamen, wurden sie von den Autoren alsbald wieder aus dem Weg geräumt. Die einzige „Schwachstelle“, die bleibt, betrifft praktische, gesellschaftspolitische Konsequenzen. Doch für Jaeggi spielen sie legitimerweise gar keine Rolle, für Rosa lediglich im Sinne eines Ausblicks – und dieser Ausblick gerät in der Tat recht schwach und vage. Die einzig konkrete Forderung – nach der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens – erscheint nicht nur wegen meiner bekannten Skepsis gegenüber diesem Konzept eher schwach begründet. Aber konkrete gesellschaftspolitische Empfehlungen oder tiefergehende Analysen konkreter einzelner Entfremdungsphänomene waren gar nicht das Ziel der beiden Bücher – ihr Mangel kann daher nicht wirklich als Schwäche interpretiert werden. Die konzeptionelle Arbeit, die Jaeggi und Rosa leisten, ist hingegen extrem wertvoll. Beim Lesen fällt einem nämlich auf, dass wir von Entfremdungsphänomenen geradezu umgeben sind – die „Entfremdungsbrille“ hilft gleichwohl, diese Phänomene greifbarer zu machen und suggeriert zumindest Auswege.

Fußnoten

  1. Entfremdung basiert übrigens auf der Dissertation von Rahel Jaeggi, was ich angesichts der Qualität des Buchs sehr beeindruckend finde.
  2. Die Analyse und Einschätzung der Nuancen der beiden Ansätze im Vergleich zueinander überlasse ich der interessierten Leserin – für mich hier ist der analytische Wert des Entfremdungsbegriffs wichtig, und in meiner Wahrnehmung sind Jaeggi und Rosa nah genug beieinander, dass man sie gemeinsam weitgehend betrachten kann.

3 Gedanken zu “Resonanz und Entfremdung

  1. Klingt spannend. Vielen Dank für die Mühe der Zusammenfassung und Bewertung. Von dem Jaeggi-Buch hatte ich noch nichts gehört. Habe beides auf die Anschaffungsliste gesetzt 😉

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  2. Interessanter Gedanke der, der Entfremdung – verspricht der freie Markt doch stets sein Bestes, die Erfuellung des Lebens, am ehesten wohl dem der es aus Perfektion zu schaetzen weis, schon mal rein im Verzicht. Danke fuer die anregende Revision.

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