Nachdem ich kürzlich die Besprechung von zwei Büchern veröffentlicht habe, dachte ich mir: Eigentlich eine ganz gute Idee, auf diese Art und Weise die Eindrücke aus verschiedenen Lektüren festzuhalten. Daher erstellte ich eine neue Kategorie „Lektüreberichte“ (Beta-Version, da ich noch nicht weiß, ob ich das durchziehen kann) und mache gleich weiter mit drei Büchern zu einem völlig anderen, ebenfalls gänzlich non-ökonomischen Thema: Zeitzeug*innenerinnerungen an den zweiten Weltkrieg, insbesondere an Kriegsverbrechen. Die Bücher: Harald Welzers Täter, Sönke Neitzels und Harald Welzers Soldaten sowie Marc Philipps »Hitler ist tot, aber ich lebe noch«.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist in vielerlei Hinsicht faszinierend – auf der einen Seite ist es das Jahrhundert der Demokratie, der Emanzipation und des enormen globalen Wohlstandswachstums. Auf der anderen ist es das Jahrhundert der Atombombe, des GULAG, der unnötigen Hungersnöte sowie zahlreicher Genozide. Mensch „at his best“ gleich neben einer Galerie der menschlichen Destruktivität (Fromm). Eine Lehrstunde des misanthropischen Humanismus.
Doch die größte dieser Kalamitäten ist und bleibt wohl die Schoah, der Holocaust, sowie der zweite Weltkrieg insgesamt – gerade für jemanden, der wie ich jeweils eine Hälfte seines bisherigen Lebens in Polen und in Deutschland verbrachte. Und die Hauptfrage in diesem Kontext lautet: wie konnte das passieren? Wie ist es möglich, dass die größten, kaum vorstellbaren Verbrechen des zweiten Weltkriegs ausgerechnet von der Nation von Kant, Marx, Goethe und Humboldt ausgingen?
Dieser und verwandten Fragen gehen die Autoren der drei Bücher nach, denen ich mich heute widmen möchte. Doch bevor ich zu den Forschungsfragen und vor allem den Antworten komme, möchte ich meine mit einer Portion Neid vermischte Begeisterung zum Ausdruck bringen – und zwar ob des Datenmaterials, auf dem zwei der Bücher basieren. In beiden Fällen handelt es sich um den Traum einer jeden Wissenschaftlerin – ein derart reichhaltiges Datenmaterial, das man es jahrelang erkenntnisreich analysieren kann. Bei Sönke Neitzel und Harald Welzer (Soldaten) handelt es sich um Abhörprotokolle aus britischen und US-amerikanischen Gefängnissen, in denen deutsche Wehrmacht- und (Waffen-)SS-Soldaten während des Krieges systematisch und ohne es zu wissen abgehört wurden. Umfang? Ca. 150 000 (sic!) Seiten. Bei Marc Philipp (»Hitler ist tot, aber ich lebe noch«) sind es ca. 40 000 Transkript-Seiten von 1624 Interviews mit 1435 Zeitzeug*innen, die zwischen 1994 und 2004 von der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte für verschiedene Dokumentationen über den zweiten Weltkrieg interviewt wurden. Das muss man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen… Dagegen basiert Welzers Analyse auf einem relativ kleinen Sample an Protokollen von Verhören und Zeug*innen-Befragungen, die von der deutschen Staatsanwaltschaft in den 1960er und 1970er Jahren mit Beteiligten an Ostfront-Kriegsverbrechen durchgeführt wurden. Aber es war Welzers Buch, das vor ca. zwei Jahren mein Interesse für diese Thematik geweckt hat.
Nicht nur hinsichtlich des Datenmaterials sind die Bücher beeindruckend. Auch was die konzeptionell–theoretischen Analyserahmen anbetrifft, gibt es da viel qualitativ Hochwertiges und man kann aus den Büchern auch diesbezüglich sehr viel lernen – einschließlich eines vorbildlich kritischen Umgangs mit dem eigenen Datenmaterial. Welzer greift dabei tief in die sozialpsychologische Werkzeugkiste und diskutiert z. B. das berühmte Milgram-Experiment, das er interessanterweise anders interpretiert als Erich Fromm (dazu siehe dieser Beitrag). Erst diese sozialpsychologische Brille erlaubt es, aus dem Material in Täter und Soldaten teilweise erschreckende Schlüsse über die menschliche Bereitschaft, Böses zu tun, zu ziehen. Philipp wiederum, dessen Fokus etwas von den anderen beiden Büchern abweicht – bei ihm geht es primär um die Wahrnehmung der NS-Zeit insgesamt –, setzt der Analyse des empirischen Materials ein umfangreiches und – soweit ich es als Laie einschätzen kann – tiefgreifendes Kapitel über die Gedächtnisforschung voran. Dabei beschäftigt er sich sowohl mit der psychologisch–neurowissenschaftlichen Forschung zu diesem Thema als auch mit der kulturwissenschaftlichen und soziologischen Forschung zum Phänomen des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses (es war schön für mich, die im Bachelor-Studium kurz angeschnittenen Theorien von Maurice Halbwachs und Aleida und Jan Assmann wiederzusehen). Auch hier hilft der reichhaltige theoretische Unterbau sehr bei der Analyse des ebenso reichhaltigen empirischen Materials.
Natürlich gab es bereits vor den hier zu besprechenden Büchern wichtige Beiträge zum Thema („wie konnte es dazu kommen?“) – insbesondere Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem und Erich Fromms Die Anatomie der menschlichen Destruktivität. Doch während Arendt ihre Schlussfolgerungen vor allem auf Basis der Analyse eines Individuums (Adolf Eichmann) zog, fokussierte sich Fromm primär auf die NS-Größen (Hitler und Himmler). Dahingegen basieren insbesondere die Arbeiten von Neitzel/Welzer und Philipp auf einer systematischen Analyse umfangreichen empirischen Materials – obgleich unterschiedlicher Art und mit unterschiedlichen Fragestellungen.
In meiner Wahrnehmung, die möglicherweise stark von der Reihenfolge bestimmt ist, in der ich die Bücher las (Täter → Soldaten → »Hitler ist tot…«), beantwortet Welzer in seinem Buch die fundamentalen Fragen und liefert umfangreiche Begründungen, indem er Erkenntnisse vor allem aus der Sozialpsychologie heranzieht. Neitzel/Welzer und Philipp liefern aber eine Fülle von Details und Nuancen, die das von Welzer gezeichnete Bild gewissermaßen vervollständigen. Seine Kernbotschaft: die an Kriegsverbrechen beteiligten deutschen Soldaten waren normale Männer. Es gab in der Wehrmacht und (Waffen-)SS durchaus Psychopathen, denen das Quälen und Morden Spaß machte – doch die Mehrheit wies keine Auffälligkeiten auf. Dass es für sie trotzdem möglich war, z. B. an Massenerschießungen teilzunehmen, lag an einer Reihe sozialer und psychologischer Faktoren, die von Pflichtgefühl gegenüber Kameraden (ein Phänomen, dessen nachhaltige Kraft und Bedeutung Philipp belegt) bis hin zur emotionalen Distanz durch Fokussierung auf „technische“ Aspekte der mörderischen Tätigkeit (hier wiederum zeigen die Abhörprotokolle von Neitzel/Welzer, dass dies ein unter Soldaten auch in „normalen“ Kontexten verbreitetes Phänomen war). Welzer spricht hier vom „Referenzrahmen“, innerhalb dessen sich die Soldaten bewegt haben – und innerhalb dessen das Töten bereits nach wenigen Wochen an der Front zu einem „Job“ wie jeder andere wurde, den man „handwerklich“ gut und in Zusammenarbeit mit Kollegen abzuliefern hatte. Die vielschichtige Analyse der Abhörprotokolle in Soldaten bestätigt diesen Befund, der auch auf den „Alltag“ der Soldaten zutraf, und zwar auch solcher Soldaten, die nicht unbedingt eine nationalsozialistische Gesinnung aufwiesen. Sie betrachteten das Töten – egal ob im Gefecht oder bei Massenerschießungen (und das ist das eigentlich erschreckende und zugleich faszinierende) – als eine unangenehme, schwere, aber zu erledigende Arbeit. Soldaten zeigt dabei in aller Deutlichkeit, welch vielfältiger Begründungsstrategien und -muster sich die Beteiligten bedienten, um ihre Taten (meist unbewusst) vor sich selbst und vor Anderen zu rechtfertigen.
Folgerichtig erkennt man nur bei wenigen Personen, die in Welzers und Neitzels Material auftauchen, Gewissensbisse. Stattdessen verfolgen insbesondere die später befragten (in Täter wie in »Hitler ist tot…«) mannigfaltige Verdrängungs- und Selbstrechtfertigungsstrategien. Das betrifft interessanterweise Soldaten genauso wie Zivilist*innen – Erstere im Hinblick auf Beteiligung z. B. Erschießungen, Letzere in Bezug auf Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung oder das Wissen um die Judenvernichtung. Die Topoi sind immer wieder die gleichen: „man konnte nichts dagegen tun“, „Andere waren schlimmer, denen hat es ja Spaß gemacht“, „das Ausmaß war unbekannt“, „Befehl ist Befehl“… Dieses Bild wird erweitert und vervollständigt durch Philipps Erkenntnisse über die Wahrnehmung der NS-Zeit durch Zeitzeug*innen (sowohl Soldaten als auch Zivilist*innen). So sind sich die vielen, biografisch und demografisch betrachtet sehr unterschiedlichen Zeitzeug*innen weitgehend einig in ihrer Wahrnehmung – Jahrzehnte nach dem Krieg –, dass nur eine kleine Minderheit für die Grauen des zweiten Weltkriegs verantwortlich war. Dies waren zum einen Adolf Hitler und einige weitere NSDAP-Größen (die üblichen Verdächtigen: Himmler, Göring, Goebbels…), zum anderen die (Waffen-)SS. Viele andere Persönlichkeiten, die im Krieg eine wichtige Rolle gespielt haben, werden von jeglicher Verantwortung für Verbrechen „freigesprochen“ – allen voran Militärs bzw. generell die „saubere“ Wehrmacht als Ganzes (ein Bild, dem zahlreiche Erkenntnisse aus der geschichtlichen Forschung – darunter auch Soldaten – klar widersprechen). Auch die deutsche Bevölkerung, deren Passivität und teilweise auch Begeisterung für Hitler & Co. die Machtergreifung und letztlich den Krieg erst ermöglicht haben, wird als „betrogen“ dargestellt. Die allermeisten Deutschen seien keine Antisemit*innen gewesen, und schon gar nicht „Nazis“; doch die vermeintlichen wirtschafts- und außenpolitischen Erfolge Hitlers sowie Goebbels’ Propagandamaschine hätten sie geblendet. Faszinierend ist dabei zweierlei – zum einen, dass in den von Philipp analysierten ZDF-Interviews (1994–2004!) teilweise Mythen unkritisch wiederholt werden, die längst von der Forschung widerlegt worden waren (bspw. bezüglich Hitlers Rolle in der Beseitigung der Arbeitslosigkeit); zum anderen, dass die analysierten Aussagen sehr oft den Eindruck vermitteln, Hitlers Schuld hätte nicht darin gelegen, dass er einen schrecklichen Krieg entfacht hat – sondern lediglich darin, dass er ihn verloren hat.
Wer verstehen möchte, wie es möglich ist, dass die NS-Diktatur in einem (wenn auch imperfekten) demokratischen Prozess an die Macht kam und anschließend einen Krieg entfachen konnte, während dessen normale Menschen schreckliche Verbrechen begingen – derer sich die meisten von ihnen Jahre später noch nicht einmal schämen –, dem seien diese drei Bücher wärmstens empfohlen. Auch wenn Harald Welzer in Täter die fundamentalen Fragen beantwortet, helfen Soldaten und »Hitler ist tot, aber ich lebe noch« dabei, ein wirklich umfassendes und empirisch fundiertes Bild zu gewinnen.
P.S. Fun fact: ich habe mir ursprünglich »Hitler ist tot…« gekauft, weil ich wissen wollte, wie die deutsche Bevölkerung den Krieg wahrgenommen hat – und zwar während der Krieg stattfand. Natürlich, und das betont Philipp deutlich, kann eine Analyse von Zeitzeug*innen-Berichten 40–50 Jahre später darüber kaum Auskunft geben. Zu sehr wurden die Erinnerungen von der Zeit überformt. Erst beim Lesen wurde mir klar, dass es vermutlich sehr schwer bis kaum möglich ist, meine ursprüngliche Frage zu beantworten. Denn in die NS-Zeit zurückreisen ist ja nicht möglich; Medienberichte und ähnliche Dokumente sind definitiv nicht verlässlich, weil sie durch die NS-Propaganda und Zensur entstellt sind. Einzige Idee, die auch nicht ich hatte, sondern meine Frau, wäre, (viele) Tagebücher aus der Zeit zu analysieren. Auch dieser Ansatz hätte natürlich mindestens zwei Limitationen: erstens schlicht, dass man an Tagebücher sehr schwer herankommt (je länger der Krieg zurück liegt, desto schwerer wird es); zweitens, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass nur bestimmte Bevölkerungsgruppen überhaupt Tagebücher schreiben, wodurch das gewonnene Bild nicht unbedingt repräsentativ wäre. Nichtsdestotrotz hielte ich ein solches Projekt für enorm spannend. [UPDATE 5.1.19: Von einer Leserin habe ich den Hinweis auf die Tagebücher von Friedrich Kellner bekommen (Buch, Zeit-Artikel), die einen ersten Einblick liefern können, auch wenn es natürlich nur die Aufzeichnung einer einzelnen Person sind.]