Ein Kollege wunderte sich kürzlich, dass ich „nicht nur Sachbücher“, sondern auch mal einen Science-Fiction-Roman lese. Ich möchte heute zeigen, dass SF-Literatur als komplementär zu Sozialwissenschaften betrachtet werden kann.
Aufmerksamen Lesern dieses Blogs wird aufgefallen sein, dass ich hin und wieder Beispiele aus SF-Literatur nutze, um meine Argumentationen zu stützen: so z. B. Orson Scott Cards Sprecher für die Toten im Kontext des Problems der „teilnehmenden Beobachtung“ oder (damals noch auf Englisch) Nancy Kress’ Bettler in Spanien im Kontext des technologischen Fortschritts. Zwar wurde mein Interesse an SF-Literatur nicht erst durch die Auseinandersetzung mit Sozialwissenschaften ausgelöst; nichtsdestotrotz finde ich, dass die beiden sehr gut zusammengehören. Der Grund dafür ist, dass SF – selbst sog. Hard-SF, die sich durch sehr starken Technologie-Fokus auszeichnet – meistens ein starkes „menschliches Element“ beinhaltet. Man denke nur an die vielen dystopischen Romane des 20. Jahrhunderts (George Orwells 1984, Aldous Huxleys Schöne neue Welt, Jewgeni Samjatins Wir, Margaret Atwoods Der Report der Magd oder die Romane von Philip K. Dick), die zutiefst philosophischen Werke Stanisław Lems oder die o. g. Beispiele, die auf diesem Blog bzw. seinem englischen Vorgänger bereits ihren Auftritt hatten. Sehr viele SF-Romane nehmen technologische Zukunftsvisionen zum Anlass, über die Menschheit in allen möglichen Facetten nachzudenken. Dies ist letztlich, was Sozialwissenschaften (und Philosophie, die für sozialwissenschaftliche Forschung unverzichtbar ist) auch tun.
Man könnte natürlich meinen, dass die Beschäftigung mit dem Menschen und der Gesellschaft nichts für SF-Literatur Spezifisches ist – die meisten Romane enthalten zumindest Elemente einer solchen Betrachtung. Doch gibt es einen wesentlichen Unterschied – während „normale“, d. h. in der Gegenwart oder Vergangenheit angesiedelten Romane Phänomene betrachten, die man ebenso gut (lediglich „trockener“) mit den Mitteln der Sozialwissenschaften analysieren kann, blickt SF auf mögliche Zukünfte, auf kontrafaktische, hypothetische Welten. Das können Sozialwissenschaften nur sehr bedingt; jenseits von mehr oder weniger kurzfristigen Extrapolationen oder naheliegenden Szenarien entzieht sich die Zukunft weitgehend einer seriösen wissenschaftlichen Analyse. Dagegen ist SF-Literatur gewissermaßen eine Art weitergehender, „befreiter“ Szenarien-Analyse.
Natürlich hat sie dadurch einen anderen epistemischen Status als sozialwissenschaftliche Forschung. Zwar gab und gibt es weiterhin Versuche, eine „Zukunftsforschung“ bzw. Futurologie zu etablieren (ein prominenter deutscher Vertreter ist Matthias Horx, den ich hier vor einer Weile aus anderen Gründen kritisierte) – doch ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ist meiner Meinung nach überhöht; in Wirklichkeit ist Futurologie ähnlich spekulativ und „literarisch“ wie SF-Literatur. Sie tut bloß so, als ob dem nicht so wäre, und ihre verschriftlichten Produkte sind meist weniger angenehm zu lesen. Die Zukunftsvisionen, die in SF-Romanen ausgebreitet werden, sind keine Wissenschaft – sie können aber weitgehende und interessante Erkenntnisse über sozialwissenschaftliche Fragestellungen bringen. Und das eben weil sie sich mit dem Unwahrscheinlichen und sehr Hypothetischen befassen.
Kurzum: aus meiner Sicht ist es sehr naheliegend, sich als Sozialwissenschaftler mit SF-Literatur auseinanderzusetzen. Die beiden sind komplementär zueinander, und Science Fiction kann eine sehr fruchtbare Inspirationsquelle für sozialwissenschaftliche Forschung sein.
Einige Leseempfehlungen:
- de facto das gesamte Œuvre von Stanisław Lem, insbesondere Die Stimme des Herrn, Der Transfer, Eden, Solaris sowie Also sprach Golem
- Orson Scott Card Enders Spiel (Ender’s Game) und Sprecher für die Toten (Speaker for the Dead)
- Nancy Kress Bettler in Spanien (Beggars in Spain)
- Ursula K. LeGuin Der Winterplanet (Left Hand of Darkness) und A Wizard of Earthsea (Der Magier der Erdsee; Fantasy, aber ebenfalls enorm lesenswert)
- Philipp K. Dick Das Orakel vom Berge (The Man in the High Castle)
- Frank Herbert Der Wüstenplanet (The Dune)
- falls sie mal ins Deutsche oder Englische übersetzt werden: Jacek Dukaj Perfekcyjna niedoskonałość (Perfekte Unvollkommenheit), Grzegorz Kopaczewski Huta (Die Hütte)
- sowie Klassiker: Huxleys Schöne neue Welt, Orwells 1984, Burgess’ Uhrwerk Orange und Bradburys Fahrenheit 451
- als Bonus: Andrzej Sapkowski, die Hexer-Pentalogie (Fantasy mit sehr vielen philosophisch-gesellschaftskritischen zweiten Böden; Prädikat exzellent)
Würde dir zustimmen absolut, dass SF komplementär zu den Sozialwissenschaften ist. Für mich ist SF eine von methodischen Restriktionen befreites explorieren möglicher Welten. Statt reiner Erkenntnisse werden neue oder mögliche Welten geschaffen. Das ist, wenn es gute SF ist, spannend, lehrreich und beängstigend.
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[…] über Science-Fiction-Literatur und Sozialwissenschaften — Skeptische Ökonomie […]
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