Ich war schon immer schwer beeindruckt von Sozialwissenschaftler*innen, die sich nicht in eine disziplinäre Schublade stecken lassen. Da wäre bespielsweise der Ökonom–Philosoph Amartya Sen, dessen Einfluss auf mein Denken kaum zu überschätzen ist. Da wäre Jon Elster, ein… Soziologe? Ökonom? Philosoph? Und natürlich ist da noch Albert Otto Hirschman, eine besonders illustre Persönlichkeit.1 Gerade schreibe ich mit einem Kollegen an einem Artikel, in dem wir Hirschmans Konzept von Exit und Voice „missbrauchen“, um etwas über Genome-Editing-Regulierung zu sagen. Diese Gelegenheit würde ich gern nutzen, um ein paar Worte über diese einflussreichste von Hirschmans vielen Ideen zu erzählen, insbesondere über ihre diversen Anwendungen in sozialwissenschaftlicher Literatur.
Albert Hirschman hat viele interessante Bücher geschrieben; das mit Abstand bekannteste und einflussreichste ist allerdings definitiv Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States von 1970. Obwohl Hirschman primär ein Ökonom war, wich er in diesem Buch stark von einer der Kernannahmen der Konsumtheorie ab; vermutlich aus diesem Grund ist sein Buch auch insbesondere außerhalb der Ökonomik einflussreich (dazu gleich). Die besagte Kernannahme, formuliert von Milton Friedman im Kontext seines berühmten Vorschlags, auf Marktmechanismen zur Verteilung von Kindern auf Schulen zu setzen:
Parents could express their views about schools directly, by withdrawing their children from one school and sending them to another, to a much greater extent than is now possible.
Allgemein formuliert besagt die Annahme, dass die typische und gleichwohl effiziente Reaktion auf Unzufriedenheit mit einem Gut oder einer Dienstleistung darin besteht, zu einem (vermeintlich besseren) Anbieter zu wechseln oder das besagte Gut/die Dienstleistung anderweitig zu substituieren. Hirschmans herrlich ironischer Kommentar hierzu:
A person less well trained in economics might naively suggest that the direct way of expressing views is to express them!
Womit wir bei der Dichotomie von Exit & Voice in a nutshell wären: es ist laut Hirschman eben mitnichten so, dass Unzufriedenheit automatisch in Substitution (=Exit) münden muss, noch ist dies immer die sinnvollste/effizientere Strategie. Konsumenten, Wähler*innen, Angestellten steht nämlich eine zweite Strategie zur Verfügung – die des Voice, d. h. der direkten Äußerung der eigenen Unzufriedenheit, und zwar durch Petitionen, Proteste, Briefe, Anrufe, politisches Engagement…2
Das interessante ist nun das Verhältnis von Exit und Voice (sowie Loyalty, dem dritten Element im Bunde, das von Hirschman selbst eher stiefmütterlich behandelt wurde, was zu endlosen Debatten darüber führte, was seine Stellung nun genau ist – die übliche Interpretation ist, dass Loyalität eine Art „Mediator“ zwischen Exit und Voice ist und sich darin äußert, dass die Betroffenen ihre Unzufriedenheit aus Loyalität gegenüber dem Anbieter eines Guts/einer Dienstleistung vorerst zurückstecken). Grundsätzlich besteht zwischen ihnen ein Trade-Off: entweder man entscheidet sich für Exit oder für Voice. Voice wird oft genutzt, wenn Exit (die eigentlich „einfachere“ Strategie) nicht zur Verfügung steht bzw. mit prohibitiv hohen Kosten verbunden ist; Exit kann eine Reaktion auf den Misserfolg oder die Unmöglichkeit von Voice sein. Doch das Verhältnis der beiden geht darüber hinaus. So argumentiert Hirschman zum Beispiel, dass in vielen Situationen die Androhung von Exit erst das erfolgreiche Einsetzen von Voice ermöglicht; aus seiner Sicht ist Exit auch in den meisten Fällen – anders als in der Standard-Konsumtheorie – eher die Option of last resort, die Menschen eher ungern umsetzen. Des Weiteren gibt es Fälle, in denen die Möglichkeit des Exit dazu führt, dass Voice nicht genutzt wird und das Problem nicht gelöst wird, wegen dessen Unzufriedenheit aufkommt. Dies betrifft vor allem die Bereitstellung öffentlicher Leistungen: Hirschman erklärt es am Beispiel der nigerianischen Staatsbahn, die sich im desaströsen Zustand befand, gerade weil Menschen auf andere Transportmittel ausweichen konnten. Da in quersubventionierten, bürokratisch organisierten Staatsunternehmen Exit nicht die Signale aussendet, wie auf dem Markt, war man sich bei der Staatsbahn der Probleme nicht in ausreichendem Maße bewusst. Hätte es die Exit-Option nicht gegeben – d. h., hätte der Staat ein Monopol gehabt –, wären die Menschen nicht umhin gekommen, ihre Unzufriedenheit auf direktem Wege zu kommunizieren. Dann hätten sie vielleicht auch eine Verbesserung der Situation erreicht.

Das faszinierende an dem Exit-Voice-Modell ist, dass es trotz (oder vielleicht gerade wegen) seiner Einfachheit enorm vielseitig einsetzbar ist. Das musste ich gerade feststellen, als ich in Vorbereitung des eingangs erwähnten Papers Literatur gesichtet habe, die auf Hirschmans Modell zurückgreift. Ich war erstaunt – Exit und Voice kann man offensichtlich nutzen, um unter anderen folgende Phenomene zu erklären: das Verhalten von Bauernverbänden in agrarpolitischen Konflikten; Reaktionen von Fußballfans auf Kommerzialisierung des Sports; mütterliche Risikoempfindungen im Bezug auf Kinder (maternal risk anxiety); staatliche Impfpolitik; Reaktionen auf unfreundliches medizinisches Personal; die Rolle von Gender in Migrationskontexten; Emotionen in deliberativ-demokratischen Institutionen; Euroskeptiker im Europäischen Parlament; Einfluss umwelt- und sozialbewusster Investoren auf Unternehmen; und die Beständigkeit des kubanischen und den Fall des ostdeutschen Sozialismus.
Das sind natürlich besonders „exotische“ Beispiele – die meisten Fachartikel, die Hirschmans Exit und Voice anwenden, tun dies im Kontext öffentlicher Dienstleistungen (insb. Bildung und Gesundheit), politischer Prozesse sowie von Wohnmärkten. Interessanterweise gibt es relativ wenig Hirschman-inspirierte Forschung zu den Möglichkeiten von Konsumenten, sowohl mit Exit als auch mit Voice auf soziale oder umweltrelevante Missstände entlang von Wertschöpfungsketten zu reagieren. Aber dazu bei einer anderen Gelegenheit, wenn unser oben erwähntes Paper irgendwann (hoffentlich) fertig ist.
Die Lektüre von Exit, Voice, and Loyalty kann ich jedem ans Herz legen. Es ist ein sehr interessantes und sehr gut geschriebenes Buch. Und es ist ein Paradebeispiel dafür, wie man jenseits der eng ökonomischen Theorie Ansätze findet, die für die Sozialwissenschaften insgesamt relevant sind. Wenn das ökonomischer Imperialismus ist, bin ich dabei.
Fußnoten
- Bei Interesse an seiner sehr spannenden Vita stelle ich auf Nachfrage gern eine eingescannte Version von Überschreiten und Unterwandern: Albert O. Hirschmans Odyssee durch das 20. Jahrhundert von Tilman Evers, erschienen in den Blättern für deutsche und internationale Politik 10/2015, zur Verfügung. Einiges daraus steht auch im deutschen Wikipedia-Artikel über Hirschman. So viel sei gesagt: der Mann dolmetschte für einen hochrangigen NS-General in einem Kriegsverbrecherprozess und kämpfte, etwa gleichzeitig mit George Orwell übrigens und in derselben Gruppierung (POUM), im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der republikanischen Kräfte.
- Eine gewissermaßen komplementäre Analyse entwickelt Hirschman in Shifting Involvements: Private Interest and Public Action (1982), wo er argumentiert, dass Menschen zwischen einer Fokussierung auf ihr Privatleben und einem intensiven politischen Engagement „hin- und herpendeln“, wieder in Abhängigkeit von der (Un-)Zufriedenheit mit dem Stand der Dinge.