Verhalten an der Ladentheke vs. Verhalten an der Urne

Was bei Landwirt*innen in Deutschland (aber auch anderswo) häufig zu Unmut führt, ist die Diskrepanz zwischen, einerseits, den Forderungen an die Landwirtschaft, die in Zeitungskommentaren, Demonstrationen, Talkshows, Petitionen und Volksbegehren geäußert werden und, andererseits, dem typischen Konsumverhalten. Vereinfacht geht es darum, dass viele Menschen von der Landwirtschaft offenbar mehr Umwelt- und Tierschutz fordern – gleichwohl nicht bereit zu sein scheinen, die damit einhergehenden höheren Lebensmittelpreise zu akzeptieren. Dabei gibt es zahlreiche Erklärungen für diese Variation des valueaction/attitudebehaviour gap.

Der US-amerikanische Agrarökonom Jayson Lusk hat bereits vor einigen Jahren eine Reihe von Hypothesen zur Erklärung des Phänomens zusammengestellt, dass Menschen sich offenbar an der Ladentheke (als Konsument*innen) anders verhalten als „an der Urne“ (als Wähler*innen bzw. generell politische Bürger*innen). Dabei systematisierte er die Antworten von Befragten des von ihm durchgeführten Food Demand Survey vom März 2015, die sich zu der Frage äußern sollten, warum ihrer Meinung nach ein Referendum zum Verbot von Legebatterien in Kalifornieren (2008) 63% Unterstützung bekam, obwohl weniger als 10% der dort gekauften Eier aus käfigfreier Haltung stammten. Die folgenden Hypothesen extrahierte Lusk aus den Antworten (im Folgenden gebe ich weitgehend den Inhalt seines eigenen Blogbeitrags wieder, allerdings generalisiert, d. h. nicht nur auf den Eier-Fall beschränkt; die Reihenfolge entspricht der Häufigkeit der Nennung im Food Demand Survey):

  • Informationshypothese: Konsument*innen ist gar nicht bewusst/bekannt, mit welchen Umwelt- und Tierwohlkonsequenzen die Produktion der von ihnen gekauften Produkte einhergehen (was kürzlich die Grundlage meines Arguments pro Bio-Lebensmittel war).
  • Preishypothese: umweltfreundliche und Tierwohl fördernde Produkte sind oft (signifikant) teurer – wenn man gerade vor dem Regal im Supermarkt steht, ist dies ein wesentlich stärkeres Kriterium als wenn man sich abstrakt über Regeln für die landwirtschaftliche Produktion äußert, sei es als Wählerin, Protestantin oder Petitionsunterzeichnerin.
  • Konsumentin-vs-Bürgerin-Hypothese: Menschen handeln in ihrer Rolle als Konsument*innen anders denn als Bürger*innen; als Konsument*innen folgen sie ihrem Eigennutzen, als Bürger*innen dem Gemeinwohl (auf diese Hypothese komme ich weiter unten noch ausführlicher zu sprechen; um die sperrige deutsche Übersetzung zu meiden, werde ich im Folgenden von consumercitizen-Hypothese sprechen).
  • Verfügbarkeitshypothese: umweltfreundliche und Tierwohl fördernde Produkte sind in den Läden, in denen viele Menschen im Alltag einkaufen, nicht verfügbar.
  • Apathiehypothese (eine Variation der consumercitizen-Hypothese): Konsument*innen denken gar nicht an Umwelt- und Tierschutz, wenn sie einkaufen; die Reflexion über diese Themen wird erst durch direkte Konfrontation (z. B. Aufruf zu einer Petition oder ein Referendum) ausgelöst.
  • (Selbst-)Selektionshypothese: Teilnehmer*innen an Referenden und Demonstrationen, Unterzeichner*innen von Petitionen, Autor*innen von Zeitungskommentaren sind für die Gesamtbevölkerung nicht repräsentativ.
  • Induzierte-Innovations-Hypothese (eine Variation der Preishypothese): Menschen sind nicht bereit, höhere Preise für umweltfreundliche und Tierwohl fördernde Produkte zu zahlen, hoffen aber, dass Verbote/Richtlinien die Produzent*innen dazu zwingen würden, dank Innovationen niedrigere Preise für solche Produkte anzubieten.

Zusätzlich zu dieser Liste nannte Lusk zwei weitere Hypothesen, die eher dem akademischen Diskurs entstammen: die Trittbrettfahrer-Hypothese (auch: Öffentliches-Gut-Hypothese) besagt, dass Menschen davon ausgehen, dass ihre individuelle Kaufentscheidung einen vernachlässigbaren Effekt auf Umwelt- und Tierschutz hat, während ihre politische Entscheidung mehr Gewicht hat. Die Selbstverpflichtungshypothese geht davon aus, dass Menschen sich ihrer Willensschwäche (Akrasia) bewusst sind, und sich daher einen Ausschluss der Optionen wünschten, die sie eigentlich schlecht finden (z. B. umweltschädliche, aber günstige, leckere oder aus sonstigen Gründen attraktive Produkte).

Auch wenn diese Hypothesen einer Erhebung in den USA entstammen, erscheint mir die Liste recht komplett – ich würde zwar erwarten, dass die relativen Häufigkeiten der Nennung in Deutschland anders wären, aber es würden eher keine völlig neuen Hypothesen hinzukommen.

Interessanterweise testete Lusk mit einigen Kollegen eine Auswahl der Hypothesen (Blogbeitrag hier; Publikation hinter Paywall hier). Ihre Schlussfolgerung war dabei scheinbar ernüchternd:

A residual hypothesis that remains if all others fail to explain the gap is inconsistent preferences. That is, people may have different preferences when shopping as compared to voting. This sort of preference inconsistency is at the heart of the so-called consumer vs. citizen phenomenon. The thought is that people adopt more public-minded preferences when in the voting booth but rely on more selfish motives when shopping privately. … While this explanation is perhaps not intellectually satisfying, it is perhaps consistent with one long strain of economic thought, De gustibus non est disputandum, while contradicting another, fixed and stable preferences.

Kurzum: es scheint auf die consumercitizen-Hypothese hinauszulaufen, was Lusk und Kollegen unzufrieden als Zeichen „inkonsistenter Präferenzen“ abtun. Dabei gibt es durchaus Erklärungsansätze, die hier relevant erscheinen – allerdings muss man aus der Ökonomik-Blase heraustreten, um diese zu finden. Zudem, und da muss ich Lusk Recht geben, der in einem kurzen Twitter-Austausch darauf hinwies – diese Erklärungsansätze sind sehr schwer empirisch zu testen. Was nicht bedeutet, dass man sie nicht ernst nehmen sollte.

Was mich zunächst stutzig machte, als ich Lusks Hypothesen-Zusammenstellung betrachtete, war die Unterscheidung zwischen consumercitizen-Hypothese, Trittbrettfahrer-Hypothese und Selbstverpflichtungshypothese. Für mich gehören die drei zusammen, und zwar insofern, als die letzteren beiden Unterkategorien der Ersteren sind. Das wird deutlich, wenn man sich einige relevante Literaturbeiträge außerhalb des ökonomischen Mainstreams anschaut.

Der consumercitizen-Hypothese begegnet man recht häufig in der Debatte um die ökonomische Bewertung von Umweltgütern – einst ein sehr prominentes Thema auf diesem Blog. Sie wird als Argument dafür verwendet, dass Ergebnisse ökonomischer Bewertungsstudien für politische Entscheidungen über öffentliche Güter (z. B. Naturschutz) nicht relevant seien – denn das Framing in einer typischen Bewertungsstudie sei das einer Konsumentscheidung, während wir es eigentlich mit politischen Entscheidungen zu tun haben. Einer der ersten, die dieses Argument ausführlich formuliert haben, war der US-Philosoph Mark Sagoff – wofür ich ihn einst der Schizophrenie bezichtigt habe (inzwischen sehe ich die Sache differenzierter).

Aber nun zurück zu der vermeintlichen Inkonsistenz von Präferenzen, wie sie entsprechend der Lusk’schen Interpretation der consumer–citizen-Hypothese vorherrscht. Schaut man sich in der sozialwissenschaftlichen Literatur etwas breiter um, findet man Ansätze, die die Phänomene hinter der consumercitizen-Hypothese erklären. Ein Beispiel ist Albert O. Hirschmans exitvoice-Konzept. Da ich es bereits einmal vorgestellt habe (hier), hier nur kurz: Hirschman ging, anders als die Mainstream-Ökonomik, davon aus, dass Menschen grundsätzlich zwei Optionen zur Verfügung stehen, wenn sie mit der Qualität eines Gutes oder einer Dienstleistung nicht zufrieden sind. Exit ist das, was ein Ökonom typischerweise erwarten würde – wenn ich hinsichtlich des Umwelt- oder Tierschutzes bei der Produktion eines Gutes Bedenken habe, fange ich an, eine umwelt- bzw. tierfreundlichere Alternative zu kaufen. Würden Menschen dies tun, gäbe es bei Lebensmitteln keinen attitude–behaviour gap. Doch Hirschman wies darauf hin, dass es noch eine andere Möglichkeit gibt (neben zahlreichen Mischformen), nämlich voice. Gerade wenn ich das betroffene Produkt ansonsten schätze, werde ich eventuell nach Wegen suchen, den Produzenten darauf hinzuweisen, was ich nicht so gut finde, um ihn dazu zu bringen, z. B. den Produktionsprozess umweltfreundlicher zu gestalten. Dies kann mittels Beschwerdebriefen, Petitionen oder aber Wahlverhalten erfolgen. Gegenüber exit hat voice den großen Vorteil, dass der Empfänger (Produzent) ein klares Signal bekommt, was der Grund für die Unzufriedenheit ist. Sonst läuft man als Konsumentin die Gefahr, ein falsches Signal zu senden – wenn ich bspw. mit der exzessiven Plastikverpackung der Bio-Produkte in einem Supermarkt unzufrieden bin und diese Produkte deswegen aufhöre zu kaufen, wird dies vom Supermarkt-Betreiber vermutlich als sinkende Nachfrage nach Bio-Produkten interpretiert – nicht als Unzufriedenheit mit Plastikverpackungen. Nach Hirschman kann es also durchaus sinnvoll sein, sein Verhalten an der Urne (voice) statt an der Ladentheke (exit) zu verändern. Dieses Verhalten wäre dann weitgehend mit dem konsistent, was Lusk als Trittbrettfahrer-Hypothese bezeichnet.

Eine weitere, komplementäre Perspektive auf das Problem findet man in der Arbeit von Amartya Sen. Konkret geht es um sein Konzept der Präferenzen zweiter Ordnung bzw. Meta-Präferenzen – eine Idee, die sich auch bei dem Philosophen Harry Frankfurt findet und die auch Hirschman aufgegriffen hat. Dabei geht es Sen darum, dass wir nicht nur die eine Präferenzordnung haben (also eine Idee, was wir besser oder schlechter finden als die jeweils verfügbaren Alternativen), mit deren Studie Ökonom*innen ihre Zeit vertreiben, sondern auch eine „Präferenzordnung über (eigene mögliche) Präferenzordnungen“:

[The concept of meta-ranking] can be used to describe a particular ideology or a set of political priorities or a system of class interests. In quite a different context, it can provide the format for expressing what preferences one would have preferred to have (“I wish I liked vegetarian foods more,” or “I wish I didn’t enjoy smoking so much”). Or it can be used to analyze the conflicts involved in addiction (“Given my current tastes, I am better off with heroin, but having heroin leads me to addiction, and I would have preferred not to have these tastes”).

Amartya Sen, Rational Fools: A Critique of the Behavioral Foundations of Economic Theory, Philosophy and Public Affairs 6(4): 317-344

Wie das Zitat verdeutlicht, können die Ursachen dafür, dass die Präferenzordnung, nach der wir aktuell handeln, nicht dem entspricht, was unser Meta-Ranking diktieren würde, vielfältig sein. Es kann sich dabei um soziale Dilemmata halten – ob das, was ich eigentlich mit einer Handlung gern erreichen würde, auch erreicht werden kann, ist mitunter von den Handlungen Anderer abhängig. Dies wäre mit der Lusk’schen Trittbrettfahrer-Hypothese konform. Oder (Selbstverpflichtungshypothese) der Grund ist Willensschwäche (wie in dem Sen’schen Beispiel der Sucht). Eine große Auswahl an möglichen Gründen für das Auseinanderfallen von Präferenzen erster und zweiter Ordnung findet man in dem Buch Ulysses Unbound des norwegischen Sozialwissenschaftlers Jon Elster. In diesem Buch sowie seinem Vorgänger, Ulysses and the Sirens, setzt sich Elster ausführlich mit den Gründen für „Selbstbindung“ auseinander: Warum wünschen wir uns mitunter, individuell oder kollektiv, dass unser Optionenraum eingeschränkt wird?

Einige der von Jayson Lusk formulierten Hypothesen zur Erklärung der Diskrepanz zwischen unserem Verhalten an der Ladentheke einerseits und an der Urne andererseits lassen sich gerade als der Wunsch nach kollektiver Selbstbindung interpretieren – und laufen letztlich auf die vermeintliche Inkonsistenz der consumercitizen-Hypothese hinaus. Wie oben mit Sen und Hirschman angedeutet, können die Gründe für diesen Wunsch vielfältig sein, und vermutlich spielen sie alle eine Rolle in dem Auseinanderfallen der politisch geäußerten Forderungen an die Landwirtschaft und des Konsumverhaltens vieler Menschen. Doch auch wenn diese Erklärungen sich vergleichsweise schwer empirisch fassen lassen, finde ich es angesichts der Fülle der sozialwissenschaftlichen Literatur, die sich mit ihnen befasst, viel zu kurz gegriffen, die consumer–citizen-Hypothese als unbefriedigende „Residualhypothese“ und letztlich eine Inkonsistenz von Präferenzen abzutun.

P.S. Interessant in diesem Kontext ist die normative Forderung von Jonathan Safran Foer, der in seinem aktuellen Buch Wir sind das Klima! unter Berufung auf die Arbeiten von Nicholas Christakis und James Fowler zur Macht sozialer Netzwerke argumentiert, soziale Dilemmata könnten auch durch individuelles Handeln zumindest gelockert werden – und zwar dank dem Einfluss, den unser Verhalten auf das uns umgebende Netzwerk aus Freund*innen, Familie, Bekannten und so weiter hat bzw. haben kann. Dazu vielleicht mehr, wenn es mir mal gelingen sollte, das Buch Connected! von Christakis und Fowler zu lesen.

Odysseus, freiwillig an den Mast gebunden, um den Sirenen zuhören zu können.

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