Kühe und Atomkraft

Im Polnischen gibt es eine Redewendung, die ich von meinen Eltern immer wieder gehört habe: „Tylko krowa nie zmienia poglądów“. Das bedeutet so viel wie „Nur eine Kuh ändert ihre Ansichten nicht.“ Ich nahm mir diesen Ausspruch sehr zu Herzen, was u. a. darin resultierte, dass ich inzwischen schon zweimal meine Meinung zu Atomkraft geändert habe. Und das innerhalb der lediglich fünf Jahre meiner Blog-Schreiberei. Vom erbitterten Atomkraft-Gegner zum verhaltenen Atomkraft-Befürworter zum verhaltenen Gegner. Eine Bestandsaufnahme.

Als ich anfing, Blog zu schreiben, war ich aktiver Greenpeacer und folgerichtig Gegner von Atomkraft, Gentechnik und einigen weiteren Technologien. Dann wurde ich in relativ kurzer Zeit – durch Diskussionen, Lektüre und Nachdenken – doppelt „bekehrt“. Erst lenkte ich bei der Atomkraft ein, kurz darauf bei Gentechnik. Doch während ich bezüglich der Gentechnik meinen Standpunkt fürs Erste wohl behalten werde, wurde mein verhaltenes pro-Atom-Denken in der Zeit am UFZ zunehmend aufgeweicht. Doch wie kam ich überhaupt auf die (vermeintlich) verrückte Idee, Atomkraft gut zu finden?

Mein Kernargument für Atomkraft war, dass sie das geringere Übel sei gegenüber ungebremstem Klimawandel. Ich zweifelte an dem Potenzial der erneuerbaren Energien, kurz- bis mittelfristig fossile Brennstoffe zu ersetzen, vor allem aufgrund der Variabilität von Wind und Sonne und der weiterhin mangelnden Speichermöglichkeiten. Daran hat sich im Grunde auch nichts verändert – ich bin immer noch in Bezug auf das Potenzial der Erneuerbaren eher skeptisch. Wovon ich inzwischen eher abgewichen bin, ist die Überzeugung, dass Atomkraft als „Lückenschließer“ dienen kann bzw. sollte.

Nichtsdestotrotz bin ich weiterhin der Meinung, dass Atomkraft teilweise zu Unrecht verteufelt wird. Das Risiko eines GAUs existiert – das ist nicht von der Hand zu weisen –, doch weder ist es besonders hoch, noch sind die Folgen zwangsläufig so dramatisch, wie oft dargestellt. Über die tatsächlichen gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl streiten sich die Geister, da möchte ich mit meinem beschränkten Wissen nicht einen Standpunkt einnehmen (müssen). Nehmen wir konservativ an, Tschernobyl wäre wirklich so schlimm gewesen, wie Greenpeace & Co. es behaupten. Dazu muss man aber sagen, dass zwei Faktoren eine große Rolle spielten, die Tschernobyl außergewöhnlich machen: die sehr anfällige sowjetische Reaktor-Technologie und das politische Klima in der Sowjetunion. Hätte man andere Reaktoren verwendet, wäre es zu dem Unfall ggf. gar nicht gekommen – und hätte man sofort adäquat reagiert (wobei TEPCOs Reaktion auf Fukushima im Rahmen dieser großzügigen Definition als „adäquat“ zu bezeichnen ist), wären die Folgen wesentlich weniger dramatisch. Außer Tschernobyl gab es in den inzwischen über 50 Jahren ziviler Atomkraftnutzung einen wirklich ernsthaften Unfall – in Fukushima vor vier Jahren. Doch da waren die negativen Folgen trotz allem überschaubar. Historisch betrachtet haben fossile Brennstoffe eine wesentlich schlechtere Mortalitäts-Bilanz als die Atomkraft.

Ein viel ernster zu nehmendes Problem ist die Entsorgung/Lagerung des Abfalls. Doch auch hier wird oft verkannt, dass das Problem eigentlich nicht so sehr quantitativ ist (wie viel Müll produzieren wir noch?), sondern eher qualitativ (wohin damit, unabhängig von der Menge?). Man könnte argumentieren, dass das Vorhandensein anderweitiger guter Gründe für die Nutzung der Atomkraft das Problem des Akkumulierens weiterer Abfallberge überwiegen könnte. Denn ob wir jetzt oder in 20 Jahren aus der Atomkraft aussteigen, ändert nichts daran, dass wir einen Weg finden müssen, den Müll sicher zu lagern – wie viel wir werden lagern müssen, ist bestenfalls von sekundärer Bedeutung (zumindest solange wir nicht massiv Atomkraft zubauen und die Müllmenge um ein Vielfaches steigern).

Hinkley Point B (Bild: Mark Robinson CC BY 2.0)
Hinkley Point B (Bild: Mark Robinson CC BY 2.0)

Das Problem ist, dass die Gründe, die für Atomkraft sprechen, sehr rar sind. Da ist vor allem die enorme Energiedichte – man braucht extrem wenig Uran, um große Mengen an Energie zu produzieren. In dieser Hinsicht ist Atomkraft im Vergleich mit allen anderen Energieerzeugungstechnologien unschlagbar. Die Produktion unterliegt des Weiteren keinen nennenswerten Schwankungen (was aber auch auf die fossilen Kraftwerke zutrifft). Und… das wär’s wohl. Auf der Negativ-Seite sieht es viel diverser aus. Zusätzlich zu den oben angeführten Problemen – die ich nicht negieren, sondern lediglich abschwächen wollte – kommt, dass Kraftwerksneubauten ungeheuerlich teuer sind und in den meisten Ländern ohne großzügige staatliche Garantien nicht konkurrenzfähig. Sowie dass Atomkraft sich mit erneuerbaren Energien nicht wirklich verträgt, weil sie schwer regulierbar ist – ein altes Greenpeace-Argument, das ebenfalls nicht leicht von der Hand zu weisen ist.

Atomkraft-Apologeten schwärmen natürlich von Reaktoren der x-ten Generation, die all diese Probleme überwinden würden. Doch dies erinnert verdächtig an die sogenannte „Kernfusions-Konstante“ – seit zig Jahren wird behauptet, dass wir kurz davor wären, Kernfusion im Großmaßstab einzusetzen und all unsere Energie-Probleme mit einem Schlag zu lösen. Da bleibe ich skeptisch – es wäre auch inkonsequent, die Möglichkeit der Entwicklung von nennenswerten Speichertechnologien anzuzweifeln (was ich tue), aber der Atomkraft mit reinem Optimismus zu begegnen. Ich bleibe lieber konsequent genereller Technologie-Skeptiker. Denn letztlich glaube ich auch nicht, dass Technologien alleine ausschlaggebend für die Lösung des Klimaproblems sein können – kulturelle und institutionelle Faktoren dürften mindestens eine ebenso große Rolle spielen. Ohne Energie-Effizienz, umfassende Einpreisung von externen Effekten der einzelnen Energieträger und eine bewusste Abkehr vom Konsumdenken kommen wir nicht weit, unabhängig vom gewählten technologischen Entwicklungspfad. Wir leben nun mal nicht im Schlaraffenland.

Was Atomkraft anbetrifft, fällt meine aktuelle Beurteilung folgendermaßen aus: Reaktor-Neubauten halte ich inzwischen doch wieder für eine schlechte Idee. Das Geld, das man dafür in Hand nehmen müsste, würde ich lieber in Forschung bspw. zu Speichertechnologien investiert sehen. Was bestehende Kraftwerkskapazität anbetrifft, ist mein Standpunkt differenzierter als zu Greenpeace-Zeiten – alte Kraftwerke sollte man aus Sicherheitsgründen zwar schrittweise vom Netz nehmen. Neuere (davon gibt es allerdings außerhalb der Schwellenländer nicht allzu viele) sollte man so lange am Netz lassen, wie es ursprünglich vorgesehen war. Ich sehe in den oben angesprochenen Risiken nicht einen ausreichenden Grund, so viel bereits investiertes Geld in den Sand zu setzen, indem man frisch installierte Reaktoren aufgibt. Stattdessen sollte man in zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen investieren.

Und was soll man von einem Menschen halten, der alle 2-3 Jahre seine Meinung zu einer so essentiellen Frage wie die Nutzung von Atomkraft ändert? Ich sehe meine Meinungsänderung als eine gewisse Anwendung der Prinzipien Bayes’scher Statistik auf die Meinungsbildung – wenn die zu einem gegebenen Zeitpunkt gesammelten Informationen und Argumente die Gesamtbeurteilung eines Problems umkehren, dann ändere ich meine diesbezügliche Meinung dementsprechend. Das ist oft schmerzhaft, gerade wenn die ursprüngliche Position recht gefestigt (um nicht zu sagen: dogmatisch) war. Aber die Erlangung von Wissen, auf dem die Ansichten eines Menschen basieren, nun mal ein kumulativer Prozess ist und man nicht alles Wissen auf einen Schlag erlangen kann, bleibt einem nichts Anderes übrig, als – ganz im Sinne des Liberalismus von John Stuart Mill – immer davon auszugehen, dass man sich irren könnte, und bereit zu sein, seine Ansichten neuen Erkenntnissen entsprechend anzupassen.

2 Gedanken zu “Kühe und Atomkraft

  1. Kann das gut nachvollziehen – ich habe bis heute ebenfalls keine abschließende Meinung zur Kernkraft. Vermutlich ist das angesichts der vielen Unsicherheiten (Unfallrisiko, langfristige Entsorgungskosten, langfristige Entsorgungssicherheit) auch gar nicht sinnvoll.
    Ein paar Ergänzungen zu deinem Beitrag, die mir spontan eingefallen sind:

    – Es gab durchaus noch andere ernsthafte Unfälle, z.B. Three Mile Island 1979. Zwar sind da nicht viele Menschen ums Leben gekommen, zu einem richtigen GAU hat aber nicht mehr viel gefehlt.

    – Ein weiterer häufig übersehener Nachteil der Atomkraft sind die damit verbundenen Proliferationsrisiken.

    – Im Zeitalter des Terrorismus muss zum Unfallrisiko auch das Terrorrisiko gezählt werden. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis irgendein Flugzeug in ein AKW in einem dicht besiedelten Land kracht (Frankreich, Deutschland…), dann haben wir ganz schnell mal ein paar hunderttausend Tote. Zwar kann man AKWs flugzeugsicher machen, aufgrund der Kosten sind das bis heute aber nur wenige.

    – Die sichere Endlagerung des Atommülls ist möglicherweise eher ein politisches als ein technisches / geologisches Problem. Es gibt einige riesige unwirtliche Landstriche auf der Erde, wo man das Zeug vmtl. ohne größeres Risiko (für den Menschen) für alle Zeit lagern kann. Z.B. Sibirien, wo Frankreich seinen Atommüll versteckt. Wenn die das dort nicht unbedingt unter freiem Himmel in rostigen Tonnen tun würden, sondern ein wenig mehr Aufwand betrieben (wenigstens verbuddeln), würde es wohl niemanden weiter behelligen. Perfekt ist das sicher auch nicht (wer weiß wer in 1000 Jahren dort rumstolpert), aber zumindest gegenwärtig dürfte das relativ sicher sein.

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    • Danke. Einige kleine Rückkommentare: 1) Three Mile Island kenne ich, habe ich bewusst unangesprochen gelassen, weil es meines Wissens keine wirklich schlimmen Konsequenzen hatte – es war vor allem ein Schreck für die US-Amerikaner, weil es ja fast zur Kernschmelze kam. 2) Das Proliferationsrisiko hielt ich immer schon für sehr aufgebauscht, daher habe ich sogar in meiner Greenpeace-Zeit dieses Argument gemieden. Das trifft übrigens auch für 3) das Terrorrisiko. Mit den Hunderttausenden Toten dürftest du leicht übertrieben haben, denke ich (obwohl es natürlich darauf ankommt, wie nah an Ballungsräumen so ein AKW steht). Meine Vermutung ist aber, dass, sollte es mal dazu kommen, dass ein entführtes Flugzeug sich erkennbar einem Reaktor nähern würde, keiner groß zögern würde, es abzuschießen. 4) Da bin ich mir nicht so sicher. Kurz- bis mittelfristig wäre es wahrscheinlich tatsächlich kein Problem, das Zeug irgendwo zu verbuddeln. Aber wie sehr schön in dem Film Into Eternity gezeigt, wird es schwierig, wenn wir an längerfristige Sicherung denken.

      Nochmal zu 2) und 3): letztendlich ist es eine Frage subjektiver Einschätzung von Unsicherheit (im Knight’schen Sinne, da wir ja keine Grundlage für die Zuweisung von Wahrscheinlichkeiten haben). Daher möchte ich nicht so verstanden werden, dass ich finde, dass du dich mit den beiden Punkten irrst. Ich finde einfach, dass sie nicht so relevant sind. Aber ich könnte durchaus falsch liegen.

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