Hollis Brown, Emissionshandel und Biodiversity Offsets

There’s seven people dead
On a South Dakota farm
Somewhere in the distance
There’s seven new people born

Als Bob Dylan vor mehr als 50 Jahren diese Zeilen schrieb (sie stammen aus dem Lied „Ballad of Hollis Brown“ von seinem 64er Album The Times They Are A-Changin’), war er sich sicherlich nicht dessen bewusst, dass sie mal als Einstieg in einen Blogbeitrag über Biodiversity Offsets dienen würden.

Warum diese Zeilen? Ich musste kürzlich eine von der Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlichte Kritik der ökonomischen Bewertung über mich ergehen lassen (Details zu dieser bald), in der Umweltökonomen de facto unterstellt wurde, zumindest in Bezug auf Umweltgüter davon auszugehen, dass man Zerstörung an einem Ort („seven people dead on a South Dakota farm“) mit Ersatz an einem anderen Ort („somewhere in the distance […] seven new people born“) ausgleichen könnte. Da dies eigentlich falsch ist und die ganze Sache in Wirklichkeit wesentlich komplexer, beschloss ich, mich ihr mal anzunehmen.

Zwei Beispiele wurden in dem besagten Text genannt – und sind auch in vielen anderen Kritiken an der ökonomischen Bewertung im Speziellen bzw. der Umweltökonomik im Allgemeinen vertreten: CO2-Emissionshandel und Biodiversity Offsets. Dies sind jedoch eigentlich Birnen und Äpfel. Um zu verstehen, wieso, widmen wir uns zunächst dem Emissionshandel, um dann die Unterschiede zu Biodiversity Offsets aufzuzeigen.

Ein perfekter Kandidat für Zertifikatehandel.
Ein perfekter Kandidat für Zertifikatehandel.

Aus ökonomischer Sicht ist die Idee handelbarer Emissionszertifikate eine ganze feine. In Lehrbüchern der Umweltökonomik unterscheidet man bezüglich Kontrolle von schädlichen Emissionen zwischen drei groben Politikinstrument-Typen: Ge- bzw. Verbote, Steuern und handelbare Zertifikate. Bei CO2 wären das jeweils bspw. kraftwerkspezifische Emissionsgrenzen, die der Betreiber nicht überschreiten darf; eine Abgabe pro Tonne emittierten CO2; oder eben ein Emissionshandelssystem wie das EU ETS, in dem man so viel emittieren darf, wie man möchte – sofern man für jede emittierte Tonne CO2 ein Zertifikat vorweisen kann. Nun ist es so, dass aus umweltökonomischer Lehrbuchsicht Steuern besser sind als Ge-/Verbote und Zertifikate besser als Steuern. Wieso? Ge- und Verbote sind weder effektiv noch effizient: sie sind nicht effektiv, weil sie sich i.d.R. auf den kraftwerkspezifischen Ausstoß beziehen, und da die Gesamtemissionsmenge von der Anzahl der Kraftwerke abhängt, auf die die betreffenden Ge-/Verbote erstmal keinen Einfluss haben, kann diese Gesamtemissionsmenge auch nicht direkt beeinflusst werden (man bedenke, dass dies nur zutrifft, wenn man die Emissionen nicht sinnvollerweise auf Null reduzieren kann – wie es bei CO2 kurz- bis mittelfristig sicherlich der Fall ist). Nicht effizient sind Ge-/Verbote, weil es Kraftwerksbetreiber geben kann, denen Reduktionen wesentlich leichter fallen würden als anderen – man könnte also die gleiche Gesamtreduktion mit weniger volkswirtschaftlichen Kosten erreichen, wenn man die Last entsprechend den Möglichkeiten verteilen würde, anstatt alle über einen Kamm zu scheren. Steuern schließen die Letztere dieser beiden „Lücken“ – sie schaffen einen Anreiz, Emissionen zu reduzieren, ohne jeden dazu zu zwingen, es in gleichem Maße zu tun. Also reduzieren zunächst die, für die es am billigsten ist, weil sie damit günstig um die Steuer herumkommen können. Problem? Auch Steuern sind nicht effektiv, weil sie keinen direkten Einfluss auf die Gesamtemissionsmenge haben – wenn neue Betreiber hinzukommen, kann die Steuer daran nichts ausrichten. An dieser Stelle springen die Zertifikate ein: was Effizienz anbetrifft, gleichen sie den Steuern (es macht volkswirtschaftlich kaum einen Unterschied, ob man eine Abgabe an den Staat entrichten oder Zertifikate auf dem Markt erwerben muss). Da ihre Gesamtzahl aber begrenzt ist, sind sie auch effektiv – das sog. cap kann nicht überschritten werden. Damit wären handelbare Zertifikate das Instrument der Wahl.

Soweit natürlich die textbook-Theorie. In der Praxis spielen weitere Faktoren eine Rolle – bspw. ist ein Zertifikate-System i.d.R. wesentlich komplizierter und schwieriger zu verwalten als bspw. eine Steuer. Auch gibt es viele Ausgestaltungsfragen, die in der Praxis die Effektivität aller drei Instrumente beeinträchtigen können. Bei Emissionshandelssystemen sind dies bspw. die Höhe des caps (siehe die Probleme mit dem EU ETS, bei dem das cap eindeutig viel zu hoch ist, um eine Wirkung zu entfalten), die sektorale Reichweite des Systems (welche Wirtschaftszweige müssen Zertifikate erwerben, welche nicht) oder der Erstzuteilungsmechanismus für Zertifikate (werden sie wie in der EU durch grandfathering, d. h. auf Grundlage historischer Emissionen vergeben oder eher an die Meistbietenden auktioniert). Nichtsdestotrotz: handelbare Zertifikate sind aus umweltökonomischer Sicht ein sinnvolles Instrument, um CO2-Emissionen in den Griff zu kriegen. Gut ausgestaltet sind sie unschlagbar.

Nun kamen einige Menschen, darunter auch Ökonomen, auf die Idee, dass man das Grundprinzip der handelbaren Zertifikate – man spare Emissionen dort, wo es am günstigsten ist, während man an anderen Stellen, wo es sich weniger anbietet, weiterhin viel emittieren kann, solange dies entsprechend mit Zertifikaten „unterfüttert“ wird – auf andere Bereiche übertragen kann. Denn letztendlich könne man die sinnbildlichen sieben Toten doch durch sieben Neugeborene bestens ausgleichen. Auf Menschen überträgt man dies zwar nicht, aber bspw. auf Habitate – unter dem Namen Biodiversity Offsets. Die Idee dahinter ist die folgende: muss man an einem Ort A ein Habitat zerstören, z. B. um eine neue Straße oder eine Siedlung zu bauen, darf man dies nur tun, wenn man anderswo ein neues Habitat wiederherstellt oder neu erschafft (ersetzt). Oder man bezahlt jemanden, der das für einen tut, d. h. man erwirbt de facto ein Zertifikat. Solange es netto zu keinen Verlusten an Habitatsfläche kommt (das no-net-loss-Prinzip), ist alles prima. Und es ist nun mal so, dass es in manchen Gebieten relativ dringlicher ist, Infrastrukturprojekte durchzuführen, und in anderen wiederum ist es relativ günstiger, Ökosysteme zu schützen oder gar wiederherzustellen (weil sie z. B. historisch vernichtet oder degradiert wurden – vide das Prinzip der MoorFutures).

Nun sind Biodiversity Offsets aber alles andere als unproblematisch. Das trivialste (aber mitnichten leicht zu behebende) Problem kennt man bereits aus dem CO2-Emissionshandel, namentlich aus dem Bereich des Clean Development Mechanisms – wie stellt man sicher, dass das „Ausgleichsprojekt“ tatsächlich zusätzlich ist, d. h. nicht sowieso stattgefunden hätte? Denn man kann von no net loss nur sprechen, wenn jeder Zerstörung eine Neuerschaffung/Wiederherstellung/Aufwertung entgegensteht. Doch mit diesem Problem werde ich mich heute nicht auseinandersetzen. Denn es gibt ein anderes, wesentlich grundlegenderes, das in den eingangs zitierten Bob-Dylan-Zeilen anklingt: unter der Annahme, dass die sieben Neugeborenen „zusätzlich“ sind, d. h. nicht geboren worden wären, wenn zunächst Hollis Brown und seine Familie nicht gestorben wären – sind sie den Browns denn gleichwertig? (falls jemandem diese Ausschlachtung der Analogie zu dem Lied makaber vorkommt, bitte ich um Verzeihung – von nun an widme ich mich wieder umweltökonomischen Beispielen)

Das „Schöne“ an CO2 ist, dass es ein homogener Schadstoff ist – egal, wo es emittiert wird, ein CO2-Molekül ist ein CO2-Molekül. Es hat immer die gleiche klimatische Wirkung, kann von genau den gleichen Senken absorbiert werden – ja, im Gegensatz zu bspw. Schwefeloxiden (wo Emissionshandel zuerst angewendet wurde) ist auch seine Wirkung global, nicht lokal/regional. Diese Homogenität ist eine sehr wichtige Voraussetzung für das Instrument handelbarer Zertifikate. Denn hinsichtlich ihrer Wirkung ist es völlig egal, ob eine gegebene CO2-Menge am Ort A, am Ort B oder am Ort C in die Luft geblasen wird. Also ist es naheliegend, es dort geschehen zu lassen, wo Vermeidung am aufwendigsten ist.

Ein Sammelsurium höchst heterogener Umweltgüter: das Cogden Moor (Bild: Kreuzschnabel/Wikimedia Commons, Lizenz: artlibre).
Ein Sammelsurium höchst heterogener Umweltgüter: das Cogden Moor (Bild: Kreuzschnabel/Wikimedia Commons, Lizenz: artlibre).

So weit, so gut. Doch lässt sich dieses Homogenitäts-Prinzip auch auf Habitate übertragen? Wohl kaum. Ein Moor in Mecklemburg-Vorpommern ist nicht gleichzusetzen mit einem Moor in Thüringen. Ein alter, naturnaher Wald ist nicht das gleiche wie ein frisch gepflanzter. Und auch wenn man sich auf die abstraktere Ebene von Ökosystemdienstleistungen begibt, gibt es relevante Unterschiede: selbst wenn die Hochwasserschutz-Leistung eines (abzuholzenden) Waldes am Ort A der eines (neu zu pflanzenden) Offset-Waldes am Ort B gleichwertig ist und wir davon absehen, dass ein frisch gepflanzter Wald zunächst zum Hochwasserschutz nicht viel taugt – die Nutznießer dieser Leistung an beiden Orten sind mitnichten identisch, womit auch die Leistung nicht äquivalent ist. (Gegenbeispiel: Ob ich die CO2-Emissionen in einer Zement-Fabrik in Bangladesch oder in einem Kohlekraftwerk in Deutschland reduziere, ist für die Anwohner der Fabrik hinsichtlich der Klimawirkung völlig irrelevant.) Kurzum: no net loss ist eigentlich jenseits einiger weniger Bereiche (z. B. CO2-Emissionen) nicht in unserer Reichweite, weil die wenigsten Umweltgüter den notwendigen Grad an Homogenität aufweisen. CO2-Emissionshandel und Biodiversity Offsets, obwohl von derselben Grundidee inspiriert, sind bei näherem Hinsehen zwei völlig verschiedene Paar Schuhe.

Heißt das, dass Biodiversity Offsets grundsätzlich abzulehnen sind? Letzten Endes erfüllen sie ihr no-net-loss-Versprechen nicht. Doch muss man sich die Frage stellen, was die Alternativen sind. Um viele Infrastrukturprojekte kommen wir nicht herum. Sie sind notwendig und der (weit verstandene) Nutzen aus ihnen übersteigt oft den Nutzen aus den Ökosystemen, die in ihrem Zuge geschädigt oder gar zerstört werden. Gleichwohl sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir Ökosysteme, Habitate und biologische Vielfalt insgesamt ungern verlieren. Also sollten die notwendigen Zerstörungen irgendwie ausgeglichen werden. Und dafür sind Biodiversity Offsets zwar nicht die optimale Lösung – diese existiert nicht, denn man müsste dafür die betreffenden Habitate mitsamt ihrer Nutznießer „umziehen lassen“ –, doch sie können durchaus eine „zweitbeste“ Lösung sein. Unter der Bedingung – genauso wie im Falle des Emissionshandels und, um genau zu sein, jeder umweltpolitischen Maßnahme, ob „ökonomisch“ oder ordnungsrechtlich –, dass sie klug und sinnvoll ausgestaltet werden. Aber dies ist eine andere Geschichte.

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