Transformation und Utopien in einer komplexen Welt

Gesellschaftliche Debatten sind heutzutage voller expliziter Wünsche nach transformativem Wandel. Viele von ihnen betreffen verschiedene Aspekte der Nachhaltigkeit, den generellen Wunsch, die Gesellschaft in einen Zustand zu transformieren, in dem sie ohne fossile Ressourcen auskommt, in dem die Biodiversität nicht mehr schwindet – und in dem es mehr Menschen gleichermaßen gut geht. Mit diesem Wunsch gehen oft mehr oder minder konkrete Vorstellungen einher, wie der erwünschte gesellschaftliche Zustand auszusehen hat – es sind Zukunftsbilder oder Utopien. Die Frage stellt sich: Sind solche Zukunftsbilder sinnvoll oder gar hilfreich?

Eine gesellschaftliche Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit bedeutet im Großen und Ganzen einen Zustandswechsel des gesellschaftlichen Systems bzw., angesichts der Natur der heutigen Krisen, zahlreicher miteinander verzahnter sozial–ökologischer Systeme. Dabei kann man davon ausgehen, dass der aktuelle Zustand zumindest im sozialen Teilsystem (im Gegensatz zum ökologischen) durchaus resilient, also widerstandsfähig ist – und zwar im Sinne unerwünschter Resilienz (undesirable resilience). Transformation bedeutet daher die Überwindung dieser unerwünschten Resilienz, damit das System in einen Zustand wechseln kann, in dem idealerweise nicht nur die sozialen, sondern auch die ökologischen Teilsysteme resilient sind (s. Abbildung). Um den Zustandswechsel zu bewirken, gilt es, sog. Hebelpunkte (leverage points) zu finden und dort Veränderungen bzw. Interventionen anzusetzen, die dann besonders große Veränderungen im Systemzustand bewirken. Dies können Veränderungen in Normen und Werten sein, politische Interventionen (Gesetze, Anreize), technologische Innovationen oder auch die gezielte Koordination bereits laufender Veränderungsprozesse.

Gesellschaftliche Transformation als Wechsel zwischen verschiedenen resilienten System-Zuständen (Quelle: Otto et al., 2020)

Welche Hebelpunkte besonders hohes Transformationspotenzial haben, ist eine offene und viel diskutierte Forschungsfrage. Da die moderne Gesellschaft sehr komplex, pluralistisch und funktional differenziert ist, und ihre Wechselwirkungen mit der natürlichen Umwelt diese Komplexität noch einmal bedeutend steigern, ist es alles andere als einfach, die Hebelpunkte ex ante (bevor man an ihnen „angesetzt“ hat) oder gar ex post (nachdem eine Intervention erfolgt ist) zu identifizieren. Im ersten Fall mangelt es uns bisher oft an Systemverständnis und geeigneten (Modellierungs-)Werkzeugen; im zweiten Fall stellt sich die Frage der Attribution – eine Veränderung im System findet nie in Isolation statt, sie wird begleitet von anderen, von ihr unabhängigen Veränderungen (denn die Teilsysteme der Gesellschaft sind konstant „im Fluss“), sowie bewirkt Veränderungen an anderen Stellen. Angesichts dieser vielen parallelen, miteinander wechselwirkenden Prozesse, ist es auch im Nachhinein sehr schwer zu bestimmen, was genau für den erfolgten Wandel im Systemzustand verantwortlich war. Mehr noch: Da wir es mit komplexen Systemen zu tun haben, deren Zustand sich emergent aus dem Wechselspiel der vielen Einzelelemente ergibt, können wir nicht einmal sagen, wie „groß“ die für die Transformation nötige Intervention sein muss. Es kann sein, dass eine ganz kleine Intervention an der „richtigen“ Stelle für einen umfassenden Wandel ausreichend sein wird (weil sie eine Kaskade von Folgeeffekten und Anpassungen an verschiedenen Stellen des Systems bewirkt); es kann aber genauso gut sein, dass eine relativ groß erscheinende Intervention nicht die erhoffte Wirkung entfaltet, eben weil sie an der „falschen“ Stelle ansetzt.

Angesichts dieser Komplexität, die schon die Identifizierung von Hebelpunkten für die Transformation substantiell erschwert, verwundert es (mich jedenfalls) umso mehr, wenn immer wieder neue Zukunftsbilder gezeichnet werden, wie denn der künftige, erwünschte Systemzustand auszusehen hat. Ein solches Zukunftsbild, eine Utopie bildet einen Referenzpunkt – wir orientieren uns an ihr bei der Bewertung der aktuellen Lage. „Wie weit vom Idealzustand sind wir entfernt? Wo haben wir ihn vielleicht schon erreicht, wo (noch) nicht?“ Und da ein solches Zukunftsbild nur dann seine Wirkung entfaltet, wenn es hinreichend detailliert ist, ist der Referenzpunkt auch relativ detailliert bzw. bildet eigentlich eine Menge an Referenzpunkten, die sich auf verschiedene Systemkomponenten und -variablen beziehen.

Derartige Zukunftsbilder bzw. Utopien bringen zwei große Probleme mit sich. Erstens, und das habe ich bereits mit Verweis auf Amartya Sens Kritik u. a. der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie vor einigen Jahren diskutiert, ein Zukunftsbild liefert erst einmal keinerlei Informationen darüber, wie man dahin kommt. Zweitens lässt es sogar offen, ob es überhaupt erreichbar ist. Mehr noch – angesichts der oben besprochenen Komplexität gesellschaftlicher und sozial–ökologischer Systeme ist es recht unwahrscheinlich, dass wir in der Lage sind, uns ex ante einen alternativen und erreichbaren Systemzustand auch nur grob vorzustellen. Das Zukunftsbild stellt bestenfalls einen unerreichbaren erstbesten Zustand dar. In der Sprache der (Wohlfahrts-)Ökonomik ist der erstbeste Zustand einer, der aus gesellschaftlicher Sicht erstrebenswert ist, dessen Erreichung aber einen perfekt informierten, allmächtigen, wohlmeinenden Sozialplaner voraussetzen würde. In der Ökonomik wird der Hauptgrund der Unerreichbarkeit in dem Nichtvorhandensein vollständiger Informationen und der Unmöglichkeit der perfekten Koordination von Einzelentscheidungen gesehen. Das lässt sich relativ leicht erweitern bzw. übersetzen in Probleme wie funktionale Differenzierung und Emergenz in komplexen Systemen, die ebenfalls im weitesten Sinne mit Informations- und Koordinationsdefiziten zu tun haben. Was unter diesen Vorzeichen realistisch erreichbar und gleichzeitig wünschenswert ist (also möglichst nah an den erstbesten Zustand herankommt*), bezeichnet man als das Zweitbeste. Und hier kommt die Crux – es wurde vor langer Zeit gezeigt (s. die General theory of the second best, vgl. Wikipedia), dass das Zweitbeste sich im Detail relativ stark vom Erstbesten unterscheiden kann. Wenn das Erstbeste in einer Dimension/Variable nicht erreichbar ist, aus welchen Gründen auch immer, kann die Erreichung des Zweitbesten die Abweichung auch in anderen Dimensionen/Variablen erforderlich machen, selbst wenn dort die „Ausprägungen“ des Erstbesten erreichbar wären. Klassisches Beispiel: Wenn vollkommene Wettbewerbsmärkte nicht erreichbar sind (nämlich aufgrund von Externalitäten, Informationsasymmetrien und öffentlichen Gütern), ist die zweitbeste Lösung gerade nicht, möglichst überall möglichst vollkommene Wettbewerbsmärkte durchzusetzen.

Was bedeutet das für die Sinnhaftigkeit von Zukunftsbildern, die ja aller Wahrscheinlichkeit nach unerreichbare erstbeste Zustände beschreiben? Die zentrale Konsequenz ist, dass das maximal wünschenswerte Zweitbeste sehr anders aussehen kann, als das erstbeste Zukunftsbild. Und daraus wird klar, warum das Zukunftsbild als Referenzpunkt problematisch ist – entweder wir halten am Referenzpunkt fest, was uns wahrscheinlich in einen weniger wünschenswerten (aber dem Erstbesten in isoliert betrachteten Details „näheren“) Zustand führen wird; oder wir erkennen die Problematik an, wodurch das Zukunftsbild seine Funktion als Referenzpunkt verliert.

An dieser Stelle wird vermutlich der Einwand geäußert, dass Zukunftsbilder mehr Funktionen haben als Referenzpunkte zu sein. Eine wichtige Funktion bspw. ist die Inspiration, insbesondere die Demonstration, dass eine andere, wünschenswertere Welt denkbar ist. Das ist zwar richtig, aber ich sehe nicht wirklich, wie diese beiden Funktionen voneinander getrennt werden könnten – ein inspirierendes, „Mut machendes“ Zukunftsbild wird automatisch zu einem Referenzpunkt. Und damit zu einem Problem.

Angesichts dieses Problems sowie der Tatsache, dass wir kaum in der Lage sein dürften, eine Transformation als eine logische Abfolge von Interventionsschritten zu planen (geschweige denn umzusetzen), erscheint mir der Nettonutzen von Zukunftsbildern bzw. Utopien negativ (ein Schluss, zu dem ich nicht zum ersten Mal gelange – siehe hier allgemein im Bezug auf Utopien bzw. da im Kontext der Agrarwende). Stattdessen plädiere ich, ebenfalls nicht zum ersten Mal, für einen inkrementellen trial-and-error-Ansatz – wobei ich „inkrementell“ im praktischen Sinne meine, nicht als Anspruch. Der Anspruch bleibt eine Transformation hin zu Nachhaltigkeit; rein inkrementelle Anpassungen dürften nicht reichen. Aber da wir nicht wissen, welche konkreten Anpassungen die erwünschte Hebelwirkung entfalten und einen Systemzustandswechsel bewirken, bleibt uns nichts Anderes übrig, als verschiedene (isoliert betrachtet inkrementelle) Interventionen auszuprobieren, und zwar in der Hoffnung, dass eine Kombinationen von ihnen den erwünschten Effekt haben wird. Dabei sollten wir uns aber von der Illusion lösen, dass wir in der Lage sind, ein realistisches Zukunftsbild zu entwerfen – es ist der Komplexität des Problems inhärent, dass wir uns seine Lösung nicht in toto vorstellen können.

*Ich abstrahiere hier davon, dass die ökonomische Wohlfahrtstheorie eine unidimensionale Metrik des „Wünschenswerten“ annimmt; in Realität haben wir es eher mit multiplen Zielen/Dimensionen des Wünschenswerten zu tun, die auch noch von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich gewichtet werden. Dies trägt nur zur Komplexität des Problems bei und verstärkt meine Argumentation tendenziell.

11 Gedanken zu “Transformation und Utopien in einer komplexen Welt

  1. Sehr spannender Beitrag! Ich würde zustimmen, dass Gesellschaftsutopien aus den von dir genannten Gründen nicht planvoll umgesetzt werden können. Dies hat – wie von dir gesagt – epistemische Gründe und Koordinationsgründe. Wobei sich unter „Koordinationsproblemen“ ja im Prinzip viele verschieden Dinge verstecken, inklusive politischer Konflikte und komplett widersprüchlicher Utopien („freier Markt“ versus „Gemeinwohlökonomie“). Für mich wäre eine interessante frage, was dies methodisch und bezüglich der Validität bestimmter Forschungsrichtungen bedeuted. Eigentlich hieße das ja, dass die ganze „leverage point“ Forschung ein Ding der Unmöglichkeit ist. Was meinst du mit „inkrementellen“ Ansätzen?

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    • 1. Die Leverage-Point-Forschung ist im konzeptionellen Sinn wichtig; für Teilsysteme mag es auch möglich sein, Hebelpunkte mithilfe von Modellen ex ante zu identifizieren.
      2. In der Transformationsliteratur unterscheidet man zwischen transformativem und inkrementellem Wandel. Inkrementelle Änderungen sind punktuell und eher klein. Allerdings wird die Unterscheidung in der empirischen Transformationsforschung oft gerade nicht mithilfe von Systemzustandsvariablen (was sinnvoll wäre) operationalisiert, sondern anhand von Variablen, die einzelne Systemkomponenten beschreiben. Transformativer Wandel auf Systemebene kann sich aber emergent durch eine inkrementell erscheinende Änderung einer Komponenten-Variable ergeben, was derartige Ansätze unterschlagen.

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      • Hmm also die Unterscheidung Systemzustandsvariable und Variable die Systemkomponenten beschreibt, verstehe ich noch nicht. Generell interessant in diesem Zusammenhang fände ich die Diversifizierung im Pflanzenbau. Vielleicht liesse sich die Unterscheidung hieran erklären?

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        • Einfach ausgedrückt geht’s um die Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck. Die Diversifizierung im Pflanzenbau ist kein Selbstzweck; sie als Maß der Transformation zu nehmen, gibt sozusagen einen konkreten Transformationspfad vor. Eigentlich geht’s (vermute ich mal) um biodiverse, ökologisch resiliente, nachhaltig produktive Landschaften. Das sind in diesem Kontext „Systemzustandsvariablen“ (wahrscheinlich habe ich die Begriffe unnötig kompliziert gewählt, denn es ging letztlich um Mittel vs Zweck, auch wenn sich dies darin widerspiegelt, auf welcher Ebene man Veränderungen misst).

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  2. Ich bin kein Wissenschaftler, nur jemand, der Agrarpolitik und wirtschaftliches Handeln in der Landwirtschaft seit den 1960er Jahren bis heute beobachtet und beruflich begleitet hat. Transformation und Utopien sind erst seit rund 20 bis 30 Jahren, also seit dem Fall der Systemgrenzen ab 1990, ein für die Praxis relevantes, aber völlig abgehobenes Thema.
    Die Begründung liefert der Autor selbst, indem er schreibt: „Angesichts …..der Tatsache, dass wir kaum in der Lage sein dürften, eine Transformation als eine logische Abfolge von Interventionsschritten zu planen (geschweige denn umzusetzen), erscheint mir der Nettonutzen von Zukunftsbildern bzw. Utopien negativ“.
    Das gilt umso mehr, wenn Adressaten (der Agrarwende) und die Modellierer von Zukunftsbildern geistig und emotional weit oder sogar sehr weit voneinander entfernt sind, wie das besonders in D der Fall ist. Die Lebenswirklichkeiten und Lebenserfahrungen liegen einfach zu weit auseinander. Vertrauen und Akzeptanz fehlen deshalb völlig.
    Und es gibt einen weiteren wesentlichen Grund: Planwirtschaft (in der Landwirtschaft) in einer grundsätzlich (noch) marktwirtschaftlichen Ordnung, kann auch deshalb nicht funktionieren, weil die Menschen ausweichen und sich im Zweifelsfall für die (wirtschaftliche) Freiheit entscheiden, also „mit den Füßen abstimmen“.
    Mir fällt in diesem Zusammenhang immer der Spruch aus der selben Szene ein, die heute viel von Transformation und Zukunftsbildern redet: „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“.
    Demut und Selbstbeschränkung an Stelle von Maßlosigkeit (im Denken) sind dort aber wohl eher Fremdwörter.

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    • Die Frage ist, ob bzw inwieweit Transformation zielgerichtet sein muss. Sie scheint notwendig zu sein angesichts der Klima- und Biodiversitätskrisen. Die Kunst liegt darin, einen Weg dahin zu finden, ohne die Hybris der ausführlichen Definition des Endzustands. Und das kann man erreichen, wenn überhaupt, dann eben gerade nicht durch „Planwirtschaft“, sondern durch das „Anstoßen“ des Systems an den richtigen Stellen (nämlich den leverage points). Deren Identifikation dürfte schwierig sein, aber zumindest für Teilsysteme sollten wir in der Lage sein, die Menge möglicher leverage points soweit einzugrenzen, dass wir sie dann durchprobieren können. Und ja, funktionieren kann das nur in einem transdisziplinären Kontext, d. h. durch aktive Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis.

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  3. „Transformation notwendig angesichts der Klima- und Biodiversitäts-Krise“. Sorry, ich kann das nicht mehr hören! Klingt wie Original Cem Özdemir. Selbstverständlich ohne jeden Bezug zur Praxis und Wissenschaft nur, wenn es passt. Siehe Glyphosat und Gentechnik

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    • Ich verstehe nicht so richtig, was Cem Özdemir, Glyphosat und Gentechnik zur Sache haben. Was den „Bezug zur Wissenschaft“ anbetrifft, kann ich nur auf entsprechende Berichte von IPCC, IPBES, Leopoldina etc verweisen, wo die Notwendigkeit und Dringlichkeit des Wandels eindrücklich vermittelt werden.

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      • Willi8…. meint, dass der Verweis auf Wissenschaft durch unseren Landwirtschaftsminister äußerst selektiv vorgenommen wird und zwar nur dann, wenn es in das eigene ideologische Weltbild passt.
        Ich selbst kann die Transformationsforderungen auch nicht wirklich ernst nehmen, da sie m.E. einseitig begründet sind und maßlos erscheinen vor dem Hintergrund politischer, globaler, physikalischer und biologischer Realitäten.

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        • So viel habe ich verstanden. Als ich es das letzte Mal prüfte, war ich allerdings nicht Cem Özdemir.

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