Das Bruttoinlandsprodukt ist als Wohlfahrtsindikator genauso populär wie ungeeignet. Also brauchen wir eine Alternative. Oder?
Gerade ist in der renommierten Zeitschrift Conservation Letters ein interessanter Artikel über den Zusammenhang zwischen dem Wachstumsparadigma und dem Verlust biologischer Vielfalt erschienen (s. Twitter-Thread unten). Das ist ein wichtiges Thema und ich habe auf Twitter ein paar Kommentare und Bedenken formuliert. Darum soll es hier allerdings nicht gehen. Vielmehr hat mich der Artikel an ein anderes Thema erinnert, das in ihm am Rande eine Rolle spielt – in der Degrowth-/Postwachstums-Literatur ist der Ausgangspunkt schon seit den 1970er Jahren die Kritik an der in der Politik verbreiteten Verwendung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Indikator gesellschaftlicher Wohlfahrt.
Die Geschichte des BIP sowie seiner Verwendung als Wohlfahrtsindikator und die Kritik daran kann auf Wikipedia nachgelesen werden, wo Studierende eines Kollegen von mir viel Arbeit in die Überarbeitung des Artikels über Wachstumskritik hineingesteckt haben. Ich möchte mich an dieser Stelle lediglich darauf beschränken, dass das BIP durchaus seine Daseinsberechtigung hat (bspw. um das Ausmaß der Staatsverschuldung in eine relevante Relation zu setzen); als Wohlfahrts- bzw. Wohlstandsindikator taugt es aber nicht viel. Folgerichtig ist eine der bedeutenderen Strömungen der Degrowth- bzw. Postwachstumsforschung die Suche nach alternativen Wohlstandsindikatoren. Und auch jenseits dieses eher heterodoxen Forschungsfeldes beteiligen sich zunehmend viele an dieser Suche – so beispielsweise die Vereinten Nationen mit dem Experimental Ecosystem Accounting (EEA) im Rahmen des System of Environmental-Economic Accounting (SEEA). Unter der Ägide des bereits weitgehend in Vergessenheit geratenen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy widmete sich 2008 eine hochkarätig besetzte Kommission um Jean-Paul Fitoussi, Joseph Stiglitz und Amartya Sen dem Thema. Es scheint viele zu bewegen.
Doch brauchen wir eine Alternative zum BIP? Sind all die Indikatoren, die im Laufe der Jahre entwickelt wurden – Human Development Index, Living Planet Index, Ecological Footprint, Genuine Progress Indicator etc. – hilfreich?
Das kommt darauf an. Kurzfristig sind sie durchaus sinnvoll, insbesondere um die Problematik der weiterhin verbreiteten Verwendung und Interpretation des BIP als Maß gesellschaftlicher Wohlfahrt zu verdeutlichen – so wie beispielsweise in diesem Artikel von Ida Kubiszewski und anderen. Die wichtigere Frage jedoch ist Folgende: brauchen wir darüber hinaus, also grundsätzlich ein generelles Maß gesellschaftlicher Wohlfahrt? Ist es also sinnvoll, die vielen Teilaspekte gesellschaftlicher Wohlfahrt und der Nachhaltigkeit in einem Indikator auszudrücken? Eigentlich nicht.
Denn gesellschaftliche Wohlfahrt ist multidimensional. Es geht um Umweltqualität, Gerechtigkeit, gute Arbeitsbedingungen, Zufriedenheit, Gesundheit, Teilhabe und vieles andere mehr. Will man unbedingt all diese unterschiedlichen Dimensionen in einen Indikator zwängen, muss man einen enormen Informationsverlust in Kauf nehmen. Manche Faktoren dürften gar nicht quantifizierbar sein und fallen dadurch heraus – dies ist in der Tat das Grundübel des BIP-als-Wohlstandsindikator, auf das Nordhaus und Tobin in ihrem Klassiker Is Growth Obsolete? schon 1972 hinwiesen. Daran ändert sich grundsätzlich nichts, wenn man einen anderen Indikator aufstellt, der mehr umfasst als BIP – alles Wichtige umfassen wird unmöglich bleiben, manche Faktoren sind eben nicht quantifizierbar. Andere Faktoren lassen sich zwar quantifizieren, aber werden dadurch entstellt – man gaukelt sich Kommensurabilität vor, wo eigentlich keine vorliegt. Es mag beispielsweise sinnvoll und erkenntnisreich sein, in bestimmten Kontexten quantitative Indikatoren von Demokratie aufzustellen und zu nutzen (bspw. hier), es bleibt aber ein problematisches Unterfangen, das zu Forschungszwecken legitim sein mag – nicht aber als Grundlage politischer Entscheidungen. Und letztlich ist ein allgemeines Problem von Kompositindikatoren – also solchen, die aus mehreren Teilindikatoren bestehen –, dass sie über Trade-offs hinwegtäuschen bzw. diese „verstecken“. Gesellschaftliche Prozesse, ob spontan oder politikinduziert, verursachen es fast immer, dass manche „gewinnen“ und andere „verlieren“. Daran ändert auch eine Aggregation der Gewinne und Verluste in einem Indikator nichts. Politische Entscheidungen müssen sich den Trade-offs stellen und diese demokratisch auflösen – transparente Information über diese Trade-offs ist dafürentscheidend.
Um festzustellen, ob es uns heute besser oder schlechter geht als gestern, ist ein „Dashboard“ mit verschiedenen Indikatoren ausreichend und auch sinnvoller als eine Zahl. So skeptisch ich gegenüber den Sustainable Development Goals (SDGs) bin – sie sind genau so ein Dashboard, das versucht, viele verschiedene Zieldimensionen nebeneinander aufzuzeigen, ohne sie unnötig und künstlich „aufzuaddieren“. Und natürlich ist es dann schwieriger, sich international zu vergleichen. Ein Superindikator macht es leicht, festzustellen, wer in der G7 oder G20 „den Größten hat“. Aber ob es in der Wohlfahrtsmessung darum geht und ob uns solche Vergleiche weiterhelfen…
