Geht die Welt unter oder geht es uns so gut wie noch nie zuvor?

Und sind das überhaupt widersprüchliche Aussagen?

Twitter kann eine wunderbare Plattform sein, wenn man bewusst den eigenen Horizont erweitern möchte. So folge ich dort beispielsweise Menschen und Organisationen, die der Meinung sind (zugespitzt), dass „die Welt untergeht“ – angesichts des Klimawandels und Biodiversitätsschwunds, aber auch des Rechtsrucks in der Politik und der Erstarkung autoritärer Regimes. Gleichzeitig folge ich aber auch anderen Menschen und Organisationen, die diese „Untergangsstimmung“ überhaupt nicht verstehen und darauf verweisen, dass es uns doch so gut geht, wie noch nie zuvor (ein Beispiel unten, inklusive der Kommentare).

Wer hat nun Recht? Geht die Welt unter? Oder geht es uns so gut wie noch nie zuvor? Ich würde die These wagen: es trifft beides zu. Und es ist weder für die öffentliche Debatte noch für die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen hilfreich, die eine oder die andere Perspektive zu ignorieren. Denn auch wenn sie prima facie widersprüchlich sind, beschreiben sie beide in zugespitzter Form die Realität.

Auf der einen Seite haben die Hans Roslings und Angus Deatons dieser Welt vollkommen Recht: noch nie ging es der durchschnittlichen Erdbewohnerin so gut wie heute. Verglichen mit naher wie ferner Vergangenheit sind wir nicht nur satt, sondern geradezu wohlhabend; wir sind gesund und leben lange; wir genießen ein Maß an Freiheit, Demokratie, Gleichstellung und Mitbestimmung, das noch vor 100 Jahren kaum denkbar war; allen bewaffneten Konflikten und Terrorismen zum Trotz leben wir auch in relativer Sicherheit. Betrachtet man die gesamte Geschichte der Menschheit, waren wir noch nie so gut dran, wie wir es heute sind. All diese goodies sind natürlich global (sehr) ungleich verteilt – doch in keiner Weltregion sind sie auf einem niedrigeren absoluten Niveau als vor, sagen wir, 50 Jahren. Und das obwohl wir vor 100 Jahren gerade mal zwei Milliarden waren – heute sind wir mehr als sieben. Die Aufklärung, die Globalisierung und die Industrialisierung führten in den letzten ca. 200–250 Jahren (vor allem aber in den letzten 100–150) zu einem enormen Anstieg in praktisch allem, was für unser Wohlergehen wichtig ist. Wir haben uns aus dem relativen Elend der Jahrhunderte davor herauskatapultiert. Ja, es geht uns so gut, wie noch nie zuvor.

Die Frage, die man sich dennoch stellen darf, ja, stellen muss, ist: ist das genug? Ist es ein Grund, sich zurückzulehnen und auszuruhen? Und was ist eigentlich der Preis dieser fantastischen Situation der durchschnittlichen Vertreterin der Art Homo sapiens? Wenn man sich diese Frage stellt, bekommt das leuchtende Bild, das ich oben gezeichnet habe, einige dunklere Töne. Und die sind der Grund, warum viele unzufrieden sind und mitunter ängstlich in die Zukunft schauen. Wie schon mit den Fragen angedeutet, handelt es sich hier um zwei verschieden Perspektiven, die das positive Bild des Ist-Zustands trüben: zum einen geht es um den Referenzpunkt, an dem man sich orientiert; zum anderen um den Blick in die Zukunft.

Es ist völlig legitim, die Vergangenheit als Referenzpunkt zu nehmen – wie ich es oben tat – und daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass es uns eben so gut geht wie noch nie zuvor. Es ist aber ebenso legitim, unser hypothetisches Potenzial als Referenzpunkt zu nehmen – und sich zu fragen, warum wir von diesem Potenzial so weit entfernt sind. Warum ist die Wohlstandsverteilung in der Welt so wahnsinnig ungleich? Wie kann es sein, dass wir Europäer*innen satt, gesund und gut versorgt sind, viele von uns geradezu mit Überfluss konfrontiert sind (aber warum eigentlich nicht alle?), während Menschen in Teilen des „globalen Südens“ Hunger und Unterernährung leiden? Warum liegt die Lebenserwartung in Deutschland bei inzwischen ca. 80 Jahren, während es im Tschad 50 Jahre sind? Warum regen wir uns in deutschen Städten über Feinstaubbelastungen auf, die in China, Indien, ja sogar in Polen als relativ gute Luftqualität durchgehen würden? Und warum leben so viele Menschen weiterhin in autoritär regierten Ländern (von Regionen ganz zu schweigen, in denen bewaffnete Konflikte stattfinden)? All das sind legitime Fragen, und sie zeigen auf, wie viel noch zu tun ist – und vor allem, wie ungleich verteilt all die goodies sind, die wir insbesondere in Europa im vollen Maße genießen. Dabei ließe sich argumentieren, dass angesichts unserer technologischen Möglichkeiten, unseres Wissens und unserer gemeinsamen ethischen Standards (trotz aller kultureller Unterschiede) eine Situation deutlich näher der Gleichverteilung möglich sein müsste, ohne dass wir alle wieder im Mittelalter landen würden. Es geht uns also tatsächlich so gut wie noch nie – aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es Menschen gibt, denen es heute nur so gut geht, wie es anderen bereits vor 50 Jahren ging (eine Tatsache, auf die Angus Deaton in seinem Buch The Great Escape sehr eindrucksvoll hinweist). In dieser Situation ist es völlig legitim und durchaus menschlich, darauf zu bestehen, dass die Situation zwar präzedenzlos gut ist – dass dennoch sehr viel zu tun bleibt.

Globale Verteilung von Lebenserwartung (Quelle: Wikimedia Commons).

Zudem: der so positive Zustand, in dem wir uns derzeit befinden, ist sehr jungen Alters. Wie bereits oben angemerkt – noch vor 100 Jahren sah die Welt viel weniger angenehm aus; wir haben seitdem einen enormen Sprung gemacht (wenn auch leider mitnichten linear…). Heißt das aber zwangsläufig, es wird weiter gut gehen? Oder gar besser werden? Das wissen wir nicht. Und es gibt durchaus ernstzunehmende Anhaltspunkte, dass wir einen „Gipfel“ erreicht haben oder bald erreichen könnten, hinter dem ein erneuter Abstieg auf uns wartet. Denn es sieht so aus, als ob wir über die Entwicklung, die uns eigentlich aus dem Elend der früheren Jahrhunderte herauskatapultiert hatte, die Kontrolle verloren haben. Die wirtschaftliche Entwicklung, die uns Wohlstand und Gesundheit brachte, bringt uns auch den Klimawandel und Biodiversitätsschwund. Wir glauben oft, uns von den Launen der Natur „befreit“ zu haben – doch dies passierte zum einen, indem wir uns in andere Abhängigkeiten begaben (von zunehmend komplexen technologisch–institutionellen Systemen). Zum anderen droht die Natur in Form von Klimawandel und Biodiversitätsschwund, uns bald daran zu erinnern, dass wir gar nicht so unabhängig von ihr sind, wie wir es vielleicht gern wären… Und auch in anderen Bereichen gibt es zumindest Anzeichen, dass die guten Zeiten, so kurz sie währten, mittelfristig vorbei sein könnten – durch das Erstarken Chinas, den grassierenden Rechtspopulismus der Trumps und Bolsonaros, durch den schwächelnden Multilateralismus in der Weltpolitik. Mit anderen Worten – es ist auch deswegen legitim, sich dem Zurücklehnen und Ausruhen zu verweigern, weil vieles darauf hindeutet, dass das „es geht uns so gut wie nie zuvor“ sehr kurzlebig sein könnte. Zumindest wenn wir nichts tun, um es zu verstetigen und zu verteidigen.

In den heutigen gesellschaftlichen Debatten gibt es eine generelle Tendenz, zwischen „uns“ und „denen“ zu unterscheiden. Auf der einen Seite die besonnenen Optimist*innen, die das, was wir als Menschheit erreicht haben, zu schätzen wissen – auf der anderen die Untergangsprädiger*innen und Panikmacher*innen. Hier die Realist*innen, die die Unzulänglichkeiten und Gefahren der Moderne erkennen – dort die kurzsichtigen Privilegierten mit dem Motto: „Nach uns die Sintflut“. Dabei haben beide Seiten zumindest teilweise Recht – doch leider tendieren beide dazu, ihre jeweilige Perspektive überzubetonen bzw. gar als die einzig wahre darzustellen. Für eine konstruktive Herangehensweise an die Probleme der modernen Gesellschaft braucht man aber beide Perspektiven – es hilft weder, das Erreichte zu ignorieren, noch, die nicht realisierten Potenziale und künftigen Gefahren von der Hand zu weisen.

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