Wachstumskritik ist immer auch Moderne-Kritik. Und Kritik an der Moderne muss zwar nicht, kann aber mitunter auch Kritik an liberaler Demokratie und der „offenen Gesellschaft“ (sensu Popper) sein. Dies trifft auch auf Degrowth zu, dessen Verhältnis zu liberaler Demokratie oft unklar ist. Doch wenn (berechtigte) Moderne-Kritik in Demokratieskepsis abrutscht, droht sie, sehr schnell ihre eigenen Ziele zu untergraben.
Um ebendieses unklare Verhältnis zwischen Degrowth und liberaler Demokratie geht es in einem gerade erschienen Artikel von Sebastian Strunz und mir: Degrowth, the project of modernity, and liberal democracy (Journal of Cleaner Production 196: 1158–1168; Preprint hier). In diesem Artikel zeigen wir anhand historischer Beispiele, wie Moderne-Kritik in Demokratieskepsis münden kann; dass entsprechende Tendenzen innerhalb der Degrowth-Bewegung festgestellt werden können; dass eine solche Demokratieskepsis die Ziele von Degrowth untergraben würde; und wie eine alternative, liberal–demokratische Herangehensweise an Wachstumskritik aussehen könnte.
Angesichts der Diversität der Degrowth-Bewegung, die von Dennis Eversberg und Matthias Schmelzer empirisch eindrucksvoll herausgearbeitet wurde,1 trifft unsere Kritik natürlich nur bestimmte Strömungen. Um dieser Diversität gerecht zu werden, haben wir verschiedene historische Idealtypen von Moderne-Kritik identifiziert, bei denen die Demokratieskepsis unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Das von uns besprochene Spektrum reicht von dem Anarchoprimitivismus eines John Zerzan, über Herbert Marcuse, Martin Heidegger und Ivan Illich bis hin zu unserem positiven Gegenbeispiel Jürgen Habermas. Die Wahl der Idealtypen wurde nicht unbedingt von ihrer Popularität in der Degrowth-Bewegung diktiert,2 obwohl Illich, Marcuse und bedingt auch Heidegger und (vereinzelt) Zerzan in der Degrowth-Literatur durchaus rezipiert werden. Unser Interesse lag eher in ihrem Wert als Idealtypen begründet.
Das Hauptergebnis aus der Analyse der Moderne-Kritiken, die von Zerzan, Marcuse, Heidegger und Illich geäußert wurden, ist: eine durchaus berechtigte Moderne-Kritik, die sich eigentlich auf Umweltzerstörung oder verschieden interpretierte Entfremdung bezieht, entwickelt rasch Tendenzen zu einer generellen Skepsis gegenüber der Moderne als Ganzem – einschließlich ihrer politischen Hauptausprägung, d. h. der liberalen Demokratie. Dies resultiert oft aus der Feststellung, dass auch in vorbildlichen Demokratien die „Auswüchse“ der Moderne vorhanden sind und in einem mehrheitsorientierten politischen System auch schlecht überwindbar erscheinen (oft genug wird in diesem Kontext, Kausalität implizierend, auch auf die Korrelation zwischen dem historischen Aufstieg der Demokratie und des Kapitalismus hingewiesen, mit der impliziten oder expliziten Schlussfolgerung, dass man nicht das eine ohne das andere haben könne).
Die Reaktionen auf diese Feststellung können natürlich unterschiedlich sein. Während Zerzan als Extremfall Sympathien für den Unabomber ausdrückte, Heidegger sich zeitweise dem Nationalsozialismus gefährlich näherte, Marcuse die Überwindung der Entfremdung auf gegen den Willen der Entfremdeten zumindest nicht ausschloss und Illich Sympathien für Mao-China hatte,3 flüchten sich andere in Eskapismus oder stehen, wie der Deutsche Niko Paech, ratlos da und sagen, dass ihre Ideen vor allem für die Welt nach dem Kollaps gedacht sind. In der Degrowth-Bewegung und -Literatur findet man alle möglichen Ausprägungen – und auch wenn radikale Stimmen wie die des Anarchoprimitivismus bisher nicht bzw. kaum vorkommen, drohen auch weniger stark ausgeprägte demokratieskeptische Positionen, die eigentlichen Ziele von Degrowth zu unterminieren – allen voran menschliche Autonomie und Freiheit.
Eine alternative Herangehensweise stellt die Moderne-Kritik von Jürgen Habermas dar. Wie auch Marcuse ist Habermas ein Vertreter der Frankfurter Schule bzw. der Kritischen Theorie (wenn auch einer späteren Generation). Allerdings geht er davon aus, dass die Auswüchse der Moderne überwindbar sind, ohne dass man auf Demokratie und individuelle Freiheiten verzichten müsste, ja, dass man geradezu auf Demokratie angewiesen ist, um sie zu überwinden. Für ihn besteht das Problem der Moderne in der nicht gut ausbalancierten Situation zwischen der Notwendigkeit, komplexe Gesellschaften mithilfe von „Systemen“ (insb. Märkte und Bürokratien) zu koordinieren, und der drohenden „Kolonisierung“ der Lebenswelt, d. h. des Bereichs direkter zwischenmenschlicher Verständigung (des kommunikativen Handelns in Habermas’ eigenen Begriffen), durch diese Systeme und ihre Imperative. Es gilt also, die Kolonisierung zu verhindern, nicht, die Koordinationssysteme als solche zu überwinden. Dafür bedarf es allerdings einer anderen Art der demokratischen Meinungsbildung – nämlich einer deliberativen, die auf öffentliche Debatten, starke Medien und Zivilgesellschaft setzt. Ansätze davon finden sich in vielen demokratischen Gesellschaften bereits heute – diese gilt es also zu befördern und zu pflegen.4
Wie kommt man in einer solchen Gesellschaft allerdings zur Überwindung des Wachstumsparadigmas, das der Degrowth-Bewegung vorschwebt? Hier bemühten wir einen anderen großen Denker, den US-Pragmatisten Richard Rorty. Ausgehend von einer grundlegenden Skepsis gegenüber der Sinnhaftigkeit von objektivistischen Begriffen wie „wahr“ oder „(moralisch) richtig“ bzw. „gut“ (die von Habermas zumindest bedingt geteilt wird5) schlägt Rorty die Figur eines „liberal ironist“ vor, der*die – ganz im Sinne liberaler, deliberativer Demokratie – seine*ihre Anliegen mittels der Einbringung von Narrativen und „Vokabularien“ in die öffentliche Debatte zu verwirklichen sucht (anstatt darauf zu pochen, dass sie die einzig wahren oder richtigen sind). Auf die Degrowth-Bewegung angewandt, hieße dies, die Bedeutung von Konzepten wie Suffizienz, Subsistenz, Regionalität, Konvivialität etc. zu unterstreichen, sie in öffentlichen Debatten mit Inhalt zu füllen und exemplarisch vorzuleben. Rorty betont in seinem Ansatz die Bedeutung von Kunst und Literatur – hier sind Bücher wie Jonathan Safran Foers Tiere essen oder Niko Paechs Befreiung vom Überfluss als positive Beispiele zu nennen, wie auch Hartmut Rosas Konzept der Resonanz. Es geht also um positive Botschaften und Bilder einer Postwachstumswelt. Und natürlich beinhaltet eine solche Herangehensweise den Einsatz demokratisch legitimierter rechtlicher „Zwangmittel“, die die Gesellschaft umweltfreundlicher und sozialer zu gestalten helfen.
Eine Frage, die uns im Peer-Review-Prozess wiederholt gestellt wurde, lautet: „Warum sind wir uns so sicher, dass dieser Ansatz irgendwas bewirken wird? Dass man durch Sprache die Auswüchse der Moderne überwinden kann?“ Unsere Antwort: das wissen wir gar nicht. Wir sind gar nicht davon überzeugt, dass Narrative es tatsächlich schaffen werden, die Ziele der Degrowth-Bewegung zu erreichen. Gleichwohl glauben sie, dass sie durchaus das Potenzial dazu haben – und sehen keine Alternativen, die nicht auf Zwang oder nicht kontrollierbaren gesellschaftlichen Umwälzungen basieren würden, und somit ebendiese Ziele unterminieren würden. Denn auch wenn wir das, z. T. aus strategischen Gründen, im Paper nicht so explizit gemacht haben: bei einer Entscheidung zwischen einer undemokratischen Weltrettung und einem demokratischen Weltuntergang tendieren wir im Zweifel zu Letzterem. Denn, um noch einen Vertreter der Frankfurter Schule zu bemühen: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Theodor Adorno).

Fußnoten
- Die beiden haben während der Degrowth-Konferenz in Leipzig 2014 eine Befragung unter den Teilnehmenden durchgeführt (auch ich entsinne mich düster, einen Fragebogen ausgefüllt zu haben), um festzustellen, dass es innerhalb der Bewegung mehrere Gruppen gibt, die außer der Wachstumskritik mitunter nicht viel gemeinsam haben. Ergebnisse der Studie auf Deutsch hier.
- Diesen Punkt haben wir im Peer-Review-Prozess mehrmals deutlich machen müssen, der übrigens drei Zeitschriften, vier Runden und acht Gutachter*innen umfasste.
- Illich bezeichnete seinerzeit – gut 10 Jahre nach dem verheerenden Großen Sprung nach vorn, infolge dessen schätzungsweise 40 Mio. oder mehr Chinesen gestorben waren – Maos China als die Gesellschaft, die seinem Ideal der Konvivialität am nächsten komme. Eine interessante und erschreckende Parallele zu Herman Dalys (immerhin einer der prominentesten Wachstumskritiker und Träger des Alternativen Nobelpreises) noch in den 90er Jahren ausgedrückten Sympathien für die Ein-Kind-Politik Chinas.
- Zur Habermas’schen Modernitätskritik siehe insbesondere seine Theorie des kommunikativen Handelns (1981); zum Entwurf einer deliberativen Demokratie unter den Bedingungen einer komplexen Gesellschaft, Faktizität und Geltung (1992).
- Hierzu eine besondere Empfehlung: Debating the State of Philosophy, die von der polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene Aufzeichnung einer 1994 stattfindenden Debatte zwischen Rorty, Habermas und Leszek Kołakowski (in einem Email-Austausch mit dem Leiter des zuständigen Referats habe ich erfahren, dass die Video-Aufzeichnungen im Laufe dieses Jahres irgendwo im Internet veröffentlicht werden sollen).