Der folgende Text basiert auf einem Vortrag, den ich am 5. April 2018 im Rahmen des jährlichen Kongresses von ND Christsein.Heute in Dresden gehalten habe. Er wird in der Zeitschrift des Verbandes, „Hirschberg“, erscheinen.
1972 war ein besonderes Jahr. Zum einen erschien der vielbeachtete und bis heute diskutierte Bericht des Club of Rome Grenzen des Wachstums, in dem ein systemtheoretisch inspiriertes Modell genutzt wurde, mithilfe dessen die Möglichkeit dauerhaften Wirtschaftswachstums untersucht (und verneint) wurde. Zum anderen veröffentlichten zwei angesehene Vertreter des ökonomischen Mainstreams, William Nordhaus und James Tobin ein Diskussionspapier, in dem sie aus ähnlichen Erwägungen, obgleich mit anderen Methoden, fragten: Ist Wachstum obsolet?1 Die Debatte darüber, ob dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit Nachhaltigkeit vereinbar ist, bricht seitdem nicht ab. Angesichts der sich mehrenden Anzeichen, dass die Menschheit sich sog. Planetaren Grenzen2 gefährlich nähert bzw. manche womöglich schon überschritten hat (durch Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt etc.), werden Stimmen immer lauter, die eine Abkehr vom „Wachstumsparadigma“ fordern. Viele dieser Stimmen haben sich in den letzten Jahren in der Degrowth-Bewegung vereint.

Die Hauptprämisse von Degrowth – dass zumindest in den Ländern des globalen Nordens eine signifikante Reduktion der Wirtschaftsaktivitäten notwendig ist – ist gleichwohl nahezu die einzige Konsensposition der ansonsten sehr vielfältigen Bewegung, in der man neben Öko-Liberalen auch Altmarxisten und Anhänger des Anarchoprimitivismus findet.3 In der begleitenden wissenschaftlichen Degrowth-Literatur, die enge Verknüpfungen zur Ökologischen Ökonomik aufweist, werden drei übergreifende Ziele der Bewegung identifiziert:4
- Reduktion des Drucks auf Natur
- Umverteilung
- Post-materialistischer Wandel
Während das Ziel 1 sich bereits in den frühen Arbeiten der Wachstumskritik wie bspw. in Grenzen des Wachstums oder in Beiträgen der Ökologischen Ökonomen Nicholas Georgescu-Roegen und Herman Daly widerspiegelt, nehmen Ziele 2 und 3 Einflüsse aus anderen gesellschaftlichen Strömungen auf, vor allem aus dem linken Teil des politischen Spektrums. Sie werden besonders stark vertreten in dem französischen „Vorläufer“ von Degrowth, der décroissance-Bewegung.
Zu jedem der Ziele der Degrowth-Bewegung werden verschiedene Maßnahmen oder Strategien diskutiert, die der Zielerreichung zuträglich sein sollen. Dabei werden – der Diversität der Bewegung geschuldet – sowohl Strategien diskutiert, die eher beim individuellen, intrinsisch motivierten Handeln ansetzen, wie auch eher staatlich–systemisch orientierte Vorschläge. Auf „volkswirtschaftlicher“ bzw. wirtschaftspolitischer Ebene schwebt den Vertreter*innen der Degrowth-Bewegung vor allem eine Lokalisierung der Wirtschaft, z. B. durch Handelseinschränkungen, eine Reduktion der Kapitalintensität z. B. durch Steuern auf Maschinen zugunsten des Produktionsfaktors Arbeit, sowie eine stärkere politische Steuerung der Innovationstätigkeit zur Förderung von „kovivialen“ Technologien vor. Konvivialität, ein von Ivan Illich geprägtes Konzept, ist eines der zentralen Konzepte von Degrowth. Eine Technologie ist konvivial, wenn sie jedem Mitglied der Gemeinschaft grundsätzlich zur Verfügung steht und von ihm genutzt und bedient, ggf. auch repariert werden kann (im weitesten Sinne geht es also um Beherrschbarkeit). Aus diesem Grund werden Großtechnologien meist abgelehnt (Atomkraft, grüne Gentechnik).
Zum Ziel der Umverteilung findet man in der Degrowth-Bewegung Ansätze und Ideen, die insbesondere in linken Kreisen schon länger diskutiert werden: sie reichen vom bedingungslosen Grundeinkommen über Maximallohn (als Pendant zum Mindestlohn) und lokale Währungen bis hin zum sog. 100%-Banking bzw. Vollgeld, wie es gerade erst in der Schweiz in einem Referendum abgelehnt wurde. Interessanterweise tauchten auch diese Ideen früher im ökonomischen Mainstream auf – der berühmte neoliberale Ökonom Milton Friedman war beispielsweise Befürworter einer bestimmten Form des Grundeinkommens, während die Idee des Vollgelds auf den ebenfalls nicht unbekannten Irving Fisher zurückgeht und in den 1960er Jahren von ebendiesem Milton Friedman empfohlen wurde.
Viele Vertreter*innen der Degrowth-Bewegung sind überzeugt, dass all diese größtenteils politisch, „top–down“ durchsetzbaren Maßnahmen nicht ausreichend sein würden ohne einen post-materialistischen kulturellen Wandel – weg vom Konsumdenken, hin zu einer Kultur der Suffizienz bzw. Genügsamkeit. Zu diesem Ziel gehört auch der Ruf nach mehr Partizipation und demokratischer Beteiligung; um diese zu fördern sowie um die Wirtschaft auf ein nachhaltiges Maß schrumpfen zu lassen, bedürfe es des Weiteren signifikanter Reduktionen der Arbeitszeit – eine Strategie, die der berühmte Ökonom John Maynard Keynes bereits 1930 als Reaktion auf die Erreichung einer „Wohlstandssättigung“ prophezeite.5 Eine Arbeitszeitreduktion würde auch, so die Vision mancher Teile der Bewegung, mehr Subsistenz ermöglichen – von Produktion eigener Nahrungsmittel im Gemeinschaftsgarten bis hin zum nachbarschaftlichen Tausch von Reparaturleistungen.
Betrachtet man die beispielhaft aufgeführten Vorschläge, die in der Degrowth-Bewegung kursieren, wird man feststellen, dass sie ein Sammelbecken für verschiedene „progressive“, aber auch „eskapistische“ Ideen sind, die bereits länger an den Rändern des gesellschaftlichen Diskurses präsent waren. Neu ist vor allem die Kontextualisierung – der Ausgangspunkt ist immer eine radikale Wachstumskritik, die oft auch mit der Rede von systemischen „Wachstumszwängen“6 verbunden ist. Gleichwohl ist es trotz mehrerer Jahrzehnte wachstumskritischer Forschung weiterhin nicht klar, warum moderne Wirtschaften eigentlich wachsen und ob dies unvermeidlich ist – liegt es am technologischen Fortschritt, an der Konsum-Kultur, an Lobby-Interessen, dem Profitdenken oder vielleicht am Geld? Vom Rand der Bewegung werden auch Bedenken angemeldet, ob Degrowth nicht ähnlich einem „Wachstumsfetischismus“ unterliegt, den es der Mainstream-Ökonomik sowie der Wirtschaftspolitik unterstellt. Sollten wir nicht eher Wirtschaftswachstum ignorieren statt eine gezielte Schrumpfung anzustreben? Wäre es nicht zielführender, soziale und ökologische Reformen durchzuführen, ohne sich um ihre Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum zu scheren?7 Andererseits, wenn es tatsächlich systemische Wachstumszwänge geben sollte, könnte eine solche Strategie schnell „nach hinten losgehen“.
Dies deutet auf eine große Schwäche der Degrowth-Forschung: es mangelt an empirischen Analysen, an Überprüfungen, ob die vielen Vorschläge, die im Degrowth-Kontext zirkulieren, auch zu den anvisierten Zielen führen würden. Des Weiteren darf man ob der großen Vielfalt der Bewegung und daher auch der aus ihr kommenden Vorschläge fragen, ob sie denn ein kohärentes Gesamtbild ergeben bzw. ob sie miteinander vereinbar sind. Kann beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen mit Arbeitszeitreduktion kombiniert werden? Und was passiert, wenn umfassende Handelsschranken, Vollgeld und konviviale Technologie-Politik aufeinander treffen? Und wie erreicht man überhaupt Suffizienz bei den Menschen? Kann sie politisch angestoßen werden?8 So klar die Ziele von Degrowth zu sein scheinen, so konfus mutet das Sammelsurium an möglichen Strategien zur Erreichung dieser Ziele gelegentlich an.
Ein großes Problem von Teilen der Degrowth-Bewegung hingegen ist die Art der Moderne-Kritik, die sie oft in die Nähe von demokratie- und liberalismuskritischen Positionen führt. Gerade angesichts der Unklarheit, wie der erwünschte post-materialistische kulturelle Wandel zu bewerkstelligen ist, werden manche in der Degrowth-Bewegung „ungeduldig“. Zudem hängt radikale Kritik an modernen kapitalistischen Gesellschaften und deren vermeintlicher „Nach uns die Sintflut“-Mentalität oft eng mit einer Desillusionierung mit der Gesamtheit der Moderne zusammen. Die wahrgenommene Notwendigkeit eines radikalen Wandels scheint sich mit der Trägheit und inkrementellen Natur demokratischer Prozesse sowie ihrer Anfälligkeit, von partikularen Interessen manipuliert zu werden, zu „beißen“. Gleichwohl sind implizite Ziele der Degrowth-Bewegung die Autonomie und Emanzipation des Individuums und der Gemeinschaft. Daher stellt sich die Frage, wie weit man mit der Moderne-Kritik, einschließlich einer Kritik an den Nachteilen eines demokratischen Systems, gehen kann und darf, ohne individuelle Freiheit zu gefährden.9 Diese Frage ist und bleibt bis auf Weiteres eine Kernfrage jeglicher weitgehender Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit, auch jenseits von Degrowth.
Fußnoten
- W. Nordhaus und J. Tobin (1972): Is growth obsolete? NBER Chapters, S. 1–80.
- J. Rockström u. a. (2009): A safe operating space for humanity. Nature 461, S. 472–475.
- D. Eversberg und M. Schmelzer (2018): The degrowth spectrum: Convergence and divergence within a diverse and conflictual alliance. Environmental Values 27(3), S. 245–267.
- I. Cosme u. a. (2017): Assessing the degrowth discourse: A review and analysis of academic degrowth policy proposals. Journal of Cleaner Production 149, S. 321–334.
- J.M. Keynes (1930): The economic possibilities of our grandchildren. In: ders., Essays in Persuasion. W.W. Norton. [Blog]
- Vgl. H.-C. Binswanger (2006): Die Wachstumsspirale. Metropolis; sowie H. Schindler u. a. (2017): Mythos monetärer Wachstumszwang: Am Gelde hängt doch alles? Ökologisches Wirtschaften 32(1), S. 23–25. [Blog]
- J. van den Bergh (2011): Environment versus growth — A criticism of “degrowth” and a plea for “a-growth”. Ecological Economics 70(5), S. 881–890. [Blog]
- U. Schneidewind und A. Zahrnt (2013): Damit gutes Leben einfacher wird: Perspektiven einer Suffizienzpolitik. Oekom.
- S. Strunz und B. Bartkowski (2018): Degrowth, the modernity project, and liberal democracy. Journal of Cleaner Production. [Blog]