Ich habe in meiner Arbeit recht viel zu tun mit Menschen, die allen möglichen natürlichen Entitäten einen Eigenwert zuweisen, die gern Naturschutz als Selbstzweck betreiben wollen. Wie bereits mehrfach angedeutet, bin ich derartigen Ansichten gegenüber recht skeptisch. Kürzlich wurde ich mit zwei besonderen Varianten des Physiozentrismus (sprich, der Überzeugung, dass nicht nur der Mensch einen intrinsischen, einen Eigenwert haben kann) konfrontiert, die mich stutzig gemacht haben – zum einen ging es darum, dass man Wildnis um ihrer selbst willen schützen sollte; zum anderen um den Schutz jeder noch so seltenen und ökologisch unbedeutenden Art. Beides erscheint mir mehr oder weniger absurd.
Über Wildnis habe ich indirekt bereits mehrfach geschrieben, als ich den Begriff „natürlich“ kritisierte, also fasse ich mich hier kurz. Wildnis ist nicht gerade ein klar umrissener Begriff, aber intuitiv geht es bei ihm um möglichst wenig vom Menschen „berührte“ Gebiete. Urwald ist eine typische Unterkategorie von Wildnis. Kann die Wildnis einen Eigenwert haben? D. h., gibt es Gründe, die Wildnis nur um ihrer selbst willen zu schützen? Das bezweifle ich. Zunächst stört mich an diesem Konzept, dass es eine scharfe Trennlinie zwischen Mensch und (wilder) Natur impliziert. Ich habe mich bereits mehrfach darüber ausgelassen, dass der Mensch ein Teil der Natur ist – ein recht komischer, das gestehe ich, aber noch viel komischer ist es, uns deshalb außerhalb der Natur zu platzieren. Wir sind das Ergebnis der Evolution, genauso wie Elefanten, Ziegen, Mammutbäume und Mais. Und wir sind mit ihnen allen genetisch verwandt. Genauso wie andere Bestandteile der Natur sind wir auf natürliche Prozesse, Ökosysteme etc. angewiesen. Genauso wie andere natürliche Entitäten versuchen wir, unsere Umwelt nach unseren Bedürfnissen zu gestalten (sind allerdings etwas erfolgreicher darin als Wölfe, Mücken oder Sonnenblumen). Kurzum, „Wildnis“ ist nichts objektiv Existierendes, sie ist ein rein menschliches Konstrukt. Aber wie soll ein menschliches Konstrukt, eine vom Menschen geschaffene Schublade, einen Eigenwert haben? Es gibt durchaus instrumentelle Gründe, sog. Wildnisgebiete zu schützen. Es gibt auch „semi-instrumentelle“ Gründe, wie bspw. Donald Maiers Theorie des appropriate fit, über die ich vor einer Weile berichtet habe. Aber der Wildnis einen Eigenwert zuschreiben, ist Unsinn.

Ähnlich verhält es sich mit Artenschutz aufgrund intrinsischer Bedenken. Denn Arten sind ebenfalls kein objektives Datum, sondern ein menschliches Konstrukt – und dazu noch ein recht kontroverses. Denn es ist und bleibt wahrscheinlich Gegenstand einer Debatte, ob man Arten genetisch, phenotypisch oder aufgrund eines Mixes dieser Faktoren (wie zzt. üblich) definiert, und wie sie demzufolge voneinander unterschieden werden sollen. Zur Klarstellung: ich möchte nicht gesagt haben, dass keine Art einen Eigenwert hat, nur weil „Art“ ein menschliches Konstrukt ist. In vielen Fällen ist diese Kategorie nämlich ein durchaus ein nützliches Hilfskonstrukt, um Gruppen von Entitäten zu umschreiben, denen Schutz aus intrinsischen Beweggründen zusteht (bspw. Schimpansen). Problematisch wird die Zuschreibung von Eigenwerten an Arten erst, wenn man mit Ökologen und Naturschützern redet, in deren Fokus seltene Arten stehen. Vor zwei Wochen nahm ich an einem Workshop teil, in dessen Rahmen einer der Teilnehmer – ein gestandener Schmetterlings- und Köcherfliegenforscher – davon sprach, wie wichtig es ihm sei, seltene Arten zu schützen, obwohl sie niemandem nützen. Dies indiziert klar eine Zuschreibung von Eigenwert. Im selben Atemzug sprach er in diesem Kontext von Arten, die sich voneinander kaum unterscheiden – weder genetisch, noch phenotypisch, noch funktional sind sie von Nichtexperten unterscheidbar. Sie schaffen gerade noch so die üblichen Kriterien, um als eigenständige Arten definiert zu werden. Wenn eine solche gerade-noch-so-Kategorisierung als Art die Grundlage sein soll für die Zuschreibung von Eigenwert, dann haben wir tatsächlich ein Problem. Und zwar potentiell ein durchaus praktisches. Stellen wir uns folgende Situation vor: wir haben zwei Populationen von, sagen wir mal, Köcherfliegen, A und B. Im Fall 1 werden sie als eine Art wahrgenommen, im Fall 2 als zwei minimal distinkte (und endemische) Arten. Population A sei durch ein wichtiges Infrastrukturprojekt bedroht (bspw. eine Windfarm oder die Sanierung einer alten Bahnstrecke). Im Fall 1 dürften Naturschützer halbwegs still sitzen, denn die Art ist ja nicht bedroht, es gibt noch Population B in der Nähe. Im Fall 2 gehen sie auf die Barrikaden. Doch objektiv sind Fall 1 und 2 kaum unterschiedlich, denn die beiden Populationen sind in beiden Fällen per Annahme nahezu identisch. Nur weil jemand eine mehr oder minder willkürliche Grenze gezogen hat, sehen sich bestimmte Gruppen von Menschen dazu bewegt, das Infrastrukturprojekt zu bekämpfen. Und genau das ist der Grund, warum ich Eigenwertzuschreibungen an Arten problematisch finde – denn wie kann etwas einen Eigenwert haben, was mehr oder minder arbiträr definiert wird? Ganz abgesehen von einer gewissen Zirkularität des Ganzen – es sind nämlich oft diejenigen, die neue Arten definieren, die auch dazu aufrufen, sie wegen ihres vermeintlichen Eigenwertes zu schützen.
Sowohl Wildnis als auch (vor allem) Arten sind nützliche Konstrukte, auch in umweltethischen und naturschutzbezogenen Debatten. Und ich leugne nicht, dass manche nicht-menschlichen Entitäten einen Eigenwert haben können (obgleich ich den Kreis solcher sehr eng ziehen würde). Aber die Verknüpfung der Idee von Eigenwert mit rein menschenerdachten, arbiträren Kategorien kann und ist oft problematisch, wenn sie konsequent umgesetzt wird.