Der Homo oeconomicus ist der Albtraum von Kritikern der Mainstream-Ökonomik. Er sei realitätsfern, maskulin, grundkapitalistisch, unethisch, amoralisch, myopisch und einiges mehr. Dieser der Paläoanthropologie unbekannte Vertreter der Hominiden gilt wahlweise als das Verhaltensmodell oder das Menschenbild der Mainstream-Ökonomik. Kaum ein Element des Theoriegebäudes Letzerer gilt in den Augen der Kritiker mehr abgeschafft als der arme Homo oeconomicus. Zu Recht?

Meine Antwort ist ein verhaltenes Nein bzw. das übliche „Es kommt darauf an“. Zuallererst sollte vielleicht doch nochmal bekräftigt werden, worauf z. B. Hans-Werner Sinn (den ich ansonsten nur mäßig überzeugend finde) zurecht hingewiesen hat: kein Ökonom glaubt, dass Menschen wirklich wie perfekt informierte, egoistische, nutzenmaximierende Maschinen funktionieren. Entgegen vielen Kritikern würde ich daher sagen, dass der Homo oeconomicus keineswegs als „Menschenbild“ der Ökonomik bezeichnet werden kann – es it vielmehr lediglich ein Verhaltensmodell, eine (sehr starke) Abstraktion. Und das Kriterium, nach dem man Modelle bewertet, ist nicht Realitätsnähe, sondern Nützlichkeit. Die Frage ist also nicht, ob Menschen sich wie Homines oeconomici verhalten (denn das tun sie offensichtlich nicht), sondern ob dieses Verhaltensmodell in einem gegebenen Kontext nah genug an Realität ist, um nützlich zu sein – und gleichzeitig einfach genug, dass es handhabbar ist (Ockhams Rasiermesser).
Interessanterweise ist ein Kontext, in dem sich der Homo oeconomicus relativ gut zurechtfindet, das Verhalten von Tieren. Es wurde sowohl theoretisch (z. B. in den bahnbrechenden spieltheoretischen Arbeiten von Robert Axelrod, aber auch in dem berüchtigten Buch The Selfish Gene von Richard Dawkins) als auch empirisch gezeigt, dass (i) der Homo oeconomicus viele Facetten tierischen Verhaltens gut zu erklären vermag und (ii) dies wiederum aus evolutionstheoretischer Perspektive durchaus Sinn macht. Ein medienwirksamer wie umstrittener Vertreter dieser Denkrichtung ist der Primatenforscher Frans de Waal, der versucht zu zeigen, dass bestimmte Grundansätze von Moral (bspw. altruistisches Verhalten) nicht nur evolutionstheoretisch sich logisch ergeben und mithilfe von de-facto-Homo-oeconomicus erklärbar sind, sondern auch entsprechend bei nichtmenschlichen Primaten nachgewiesen werden können.
Doch dies nur als Digression. Denn eigentlich ist der Homo oeconomicus dazu bestimmt, menschliches Verhalten zu… Na eben, was eigentlich? Die Nützlichkeit des Homo oeconomicus, das haben wir bereits festgestellt, ist abhängig davon, wofür er genutzt wird. Eine gerade vor dem Hintergrund ökonomischer Theoriegeschichte wichtige Unterscheidung ist die zwischen Erklären und Vorhersagen. In seinem berühmten Essay über die Methodology of Positive Economics plädierte Milton Friedman dafür, die Qualität ökonomischer Modelle lediglich anhand ihres Potenzials, treffende Vorhersagen zu machen, zu beurteilen. Er ging provokanterweise gar so weit, möglichst realitätsferne und einfache Modelle zu fordern – eine etwas überspitzte Version des ockhamschen Rasiermessers. Es gab viele Reaktionen auf Friedmans Beitrag, zumal dieser nicht gerade einfach verständlich geschrieben ist. In einer von ihnen wies Amartya Sen darauf hin, dass dies mit dem simplen Friedman’schen Qualitätskriterium nicht so einfach ist. Wenn Vorhersagen der relevante Zweck sind, dann braucht man sich um Realitätsnähe nicht im Geringsten zu kümmern – ja, man braucht den betreffenden Prozess nicht einmal zu beschreiben. In vielen Fällen reicht die Feststellung einer halbwegs stabilen Korrelation, um gute Vorhersagen zu treffen. Allerdings verwendet man auch in der Ökonomik Modelle nicht nur zu Vorhersagezwecken, sondern auch, um zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen. Nun kann man sich natürlich streiten, was „erklären“ genau bedeutet und wie weit dieser Begriff von bloßem Vorhersagen tatsächlich entfernt ist. Doch die generelle Botschaft ist – für derartige Ziele braucht man üblicherweise etwas komplexere Modelle als zu Prognosezwecken. Bzw. noch allgemeiner formuliert: die Nützlichkeit (und damit Qualität) eines Modells hängt essentiell von dem Kontext ab, in dem es verwendet wird.
Entgegen dem, was man glauben mag, ist der Homo oeconomicus ein ziemlich flexibles Modell, denn im Kern besteht er darin, dass eine Zielfunktion (üblicherweise: Nutzen) unter Nebenbedingungen maximiert wird. Sowohl die Zielfunktion als auch die Nebenbedingungen können je nach Kontext unterschiedlich definiert werden. Ein Beispiel: eine einflussreiche Kritik des Homo oeconomicus stammt von dem Psychologen Herbert Simon, der auf ein Verhaltensmuster hinwies, dass er satisficing nannte: Menschen maximierten nicht ihren Nutzen, sie würden vielmehr in der Regel einen good-enough-Zustand anstreben. Ist das ein Problem für den Homo oeconomicus? Keineswegs. Denn er maximiert seine Zielfunktion sowieso unter Nebenbedingungen (insb. verfügbares Budget). Wenn man die Suchzeit und -anstrengung dort mit einbezieht, die notwendig sind, um die beste verfügbare Alternative zu finden, kann man satisficing relativ einfach als ein Maximierungsproblem darstellen. Vorteil: so ist es handhabbarer, denn man macht die good-enough-Schwelle an mehr oder minder objektiven Kriterien fest. In anderen Kontexten kann man auch weitere üblicherweise vom Homo oeconomicus ausgeschlossenen Aspekte relativ einfach als Nebenbedingungen einarbeiten, einschließlich sozialer Normen, psychologischer/kognitiver Beschränkungen etc. (vgl. Abschnitt 2.4.1.5 dieses UBA-Berichts über „geplante Obsoleszenz“).
Welcher Modifikation der Homo oeconomicus bedarf, ist also kontextabhängig. Es gibt Fälle, in denen das rudimentäre Standardmodell ausreichen mag; in anderen sind mehr oder weniger weitreichende Anpassungen nötig. Das ist die eine Kernbotschaft des heutigen Beitrags. Die andere: Homo oeconomicus als das Menschenbild der Ökonomik zu bezeichnen, ist unzutreffend. Dies ist höchstens die externe Wahrnehmung: die Ökonomen seien Verrückte, die glauben, der Mensch wäre eine egoistische Maschine. Dabei handelt es sich hier lediglich um ein (zugegebenermaßen sehr einflussreiches) Modell, das in verschiedenen Kontexten verschieden sinnvoll anwendbar und aussagekräftig ist. Und den meisten Anwendern dieses Modells ist dies vollkommen klar. Was eher ein Problem ist, ist Bequemlichkeit: die Standard-Version des Homo oeconomicus ist gerade mathematisch sehr gut handhabbar (und die Ökonomen mögen Mathematik, mehr als ihnen gut tun würde), was dazu verleitet, sie auch in Kontexten zu verwenden, in denen Erweiterungen/Anpassungen angebracht wären. Dennoch: zu sagen, dass der Homo oeconomicus wahlweise realitätsfern, maskulin, grundkapitalistisch, unethisch sei, zeugt davon, dass man nicht verstanden hat, was der Sinn und Zweck von Modellen ist und nach welchen Kriterien diese zu beurteilen sind.
P.S. Das Bild stellt in Wirklichkeit die Schädelrekonstruktion von Australopithecus afarensis dar (CC BY-SA 3.0 Pbuergler), einem vor ca. 3,8 bis 2,9 Millionen Jahren lebenden Hominiden.