Ein kürzlich angesehener Vortrag des Schweden Hans Rosling hat mich an ein Problem erinnert, das seit Jahrzehnten entwicklungspolitische Debatten bestimmt – gewissermaßen ein Henne-Ei-Problem der Entwicklungspolitik. Was kommt zuerst/sollte zuerst kommen: Steigerung des Einkommens oder Steigerung in anderen Wohlstandsparametern? Wohl wissend, dass „the plural of anecdote is not data“, würde ich gern ein paar Belege vorstellen, die die These stützen, dass die Steigerung des Einkommens keine Voraussetzung für die Steigerung des breiter verstandenen Wohlstands ist, entgegen den üblichen Empfehlungen internationaler Organisationen wie die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds.
Ein Klassiker in dieser Hinsicht ist Amartya Sen, insb. sein berühmtes Kerala-Beispiel. Kerala war seinerzeit (inzwischen nicht mehr) einer der ärmsten Bundesstaaten von Indien. Gleichwohl schnitt es bezüglich der sonstigen Wohlstandsparameter (Alphabetisierungsrate, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung etc.) so gut ab wie kaum ein anderer Teil Indiens. Für Sen ein paradigmatisches Beispiel dafür, das eine erfolgreiche Entwicklungspolitik vor allem Investitionen in öffentliche Güter (Schulen, Gesundheitsversorgung etc.) voraussetzt, nicht die üblichen IMF- und World-Bank-Rezepte, die auf schnelles Wirtschaftswachstum um (fast) jeden Preis setzen. Inzwischen liegt auch das Pro-Kopf-Einkommen in Kerala deutlich über dem allindischen Durchschnitt.
Der eingangs erwähnte Hans Rosling bietet in diesem sehr empfehlenswerten Vortrag aktuellere und „quantitativere“ Belege für die These, dass Investitionen in öffentliche Güter für die Entwicklung wesentlich wichtiger sind als die Forcierung wirtschaftlichen Wachstums, und dass Letzteres dem Ersteren nachzieht, nicht andersherum. Sein Gap Minder (siehe Screenshot unten) ist ein Online-Tool, mit dem man diesen Zusammenhang nochmal etwas „statistischer“, weniger anekdotenhaft nachvollziehen kann. Wenn man sich beispielsweise den historischen Verlauf des Zusammenhangs zwischen Kindersterblichkeit (eine gut mit anderen wichtigen Entwicklungsparametern korrelierte Größe) und BIP/Kopf ansieht, merkt man, dass in den meisten Ländern zunächst Erstere zurückging, bevor deutliches Wirtschaftswachstum einsetzte.
Zu guter Letzt gibt es das recht interessante Beispiel Kuba. Ich bin kein großer Fan sozialistischer Experimente dieser Art und fand es ziemlich daneben, als ich gestern ein Billboard von der Jungen Welt sah, auf dem Fidel Castros 90. Geburtstag gefeiert wurde. Aber im Kontext des heutigen Beitrags ist Kuba ein sehr interessanter Fall. Was Einkommen anbetrifft, sieht es dort ziemlich mau aus (in den Datenbanken internationaler Organisationen taucht Kuba leider nicht auf, doch wird gerade das verfügbare Einkommen der Bevölkerung als vergleichsweise niedrig geschätzt). Gleichwohl schneidet Kuba bezüglich vieler Wohlstandsindikatoren eher gut ab – bspw. war es 2013 in der Gruppe der „very high human development“-Länder nach dem Human Development Index der Vereinten Nationen gelistet.
Es scheint, dass Investitionen in öffentliche Güter wie Schulen, Gesundheitsversorgung etc. der sozio-ökonomischen Entwicklung zumindest nicht schaden – wahrscheinlich sind sie sogar eine bessere Strategie als die gezielte Forcierung des Wirtschaftswachstums. Zumal es Gesundheit, Sicherheit, Zugang zur Arbeit, Bildung und ähnliche Faktoren sind, die vor allem für das Wohlergehen der Menschen wichtig sind, nicht wie viel Geld man in der Tasche hat (und schon gar nicht, wie viel Geld in den Konten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgewiesen ist). First things first.