Wenn ich diesen Blog schreibe, tue ich das meistens in meiner Rolle als Wissenschaftler bzw., konkreter, Umweltökonom, der zu landwirtschaftlichen Themen arbeitet. Hin und wieder schlüpfe ich aber in eine andere Rolle oder nehme sie zumindest als Ausgangspunkt für verschiedene Gedankengänge. Eine solche Rolle ist die eines Migranten. Sie wird mir heute als Ausgangspunkt für Überlegungen zu einem der (für mich) faszinierendsten Konzepte, mit deren Hilfe wir versuchen, uns selbst und Andere zu beschreiben und zu verstehen: Identität.
Ich wurde in Polen geboren. Erst als Teenager kam ich mit meiner Familie nach Deutschland. Meine Familie hat keine bekannten deutschen „Wurzeln“ – es hatte pragmatische und wirtschaftliche Gründe, dass wir nach Deutschland kamen. In diesem Sinne bin ich hinsichtlich Ethnie sowie Nationalität Pole. Oder?
Was macht mich zu einem Polen? Ich wurde in dem Staat „Polen“ geboren (interessanterweise: das war bei meinen beiden Urgroßvätern, die ich noch kennen lernen durfte, nicht der Fall – denn Anfang des 20. Jahrhunderts gab es einen polnischen Staat nicht). Meine Familie war und ist in ihrem Selbstverständnis „polnisch“ (obwohl Teile von ihr aus Gebieten kommen, die heute nicht mehr in Polen liegen). Polnisch ist meine Muttersprache (bzw., folgt man dem Polnischen: „Vatersprache“, język ojczysty). Alles klar, oder?
Gleichwohl: Ich lebe seit inzwischen nahezu 20 Jahren in Deutschland – länger, als ich in Polen gelebt habe. Ich habe beide Staatsbürgerschaften, allerdings aktuell nur deutsche Dokumente. Polnisch mag die Sprache sein, die ich bis zu meinem 15. Lebensjahr fast ausschließlich gesprochen habe – inzwischen fällt es mir aber wesentlich leichter, mich auf Deutsch zu verständigen. Es gibt eigentlich keinen Kontext, in dem ich Polnisch vorziehen würde – in den allermeisten ist es mir relativ egal, welche der beiden Sprachen ich spreche. In einigen Kontexten jedoch (z. B. Arbeit) kann ich mich auf Polnisch deutlich schlechter verständigen, denn mir fehlt das nötige Vokabular. Auch die Grammatik ist inzwischen etwas eingerostet. Und zuletzt: Ich fühle mich in Polen öfters fremd, weil ich den Bezug zu den dortigen politischen und gesellschaftlichen Realitäten verloren habe. Bin ich trotzdem Pole?
Oder macht mich das nun zum Deutschen? Nach meinem eigenen Selbstverständnis: Nein. Bin ich also doch ein Pole? Ebenfalls nicht.
In vielen Gesprächen, in denen ich das äußere, folgt die oft sarkastisch formulierte Frage: „Dann bist du wohl „Europäer“?“ (die Gänsefüßchen sind meist nicht zu überhören). Oder gar „Weltbürger“? Tja, eben auch nicht.
Nationalität und Ethnie sind Identitäten. Soziale Konstrukte, die sich zwar an bestimmten objektiven Merkmalen orientieren (Sprache, geografische Herkunft, manchmal auch Religion), aber letztlich darauf reduziert werden können, dass man sich als Mitglied einer bestimmten Gruppe begreift bzw. definiert. Sie sind in diesem Sinne subjektiv. Man wählt sie. Natürlich nicht beliebig – es wäre absurd, wenn ich mich als Polynesier identifizieren würde, obwohl ich keinerlei Beziehungen nach Polynesien habe, ja, nie Europa verlassen habe. Aber – so zumindest meine These – zwischen „Pole“ und „Deutscher“ könnte ich angesichts meines Hintergrunds frei wählen. Ja, ich könnte mich mit beiden gleichzeitig identifizieren. Oder mit einer übergeordneten Kategorie, z. B. der eines Europäers. Oder eben – und das ist seit einer Weile die Wahl, mit der ich mich wohl fühle – weder noch. Ich habe keine Nationalität. Bzw., vielleicht besser ausgedrückt – es ist ein für mich völlig irrelevantes Konzept.
Nun, warum schreibe ich das, jenseits eines narzisstischen Selbstmitteilungsimpulses? Weil mich Identität dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) fasziniert. Sehr viele Bücher, die ich lese, befassen sich zumindest indirekt mit Fragen der Identität – meist der nationalen bzw. ethnischen, gelegentlich aber anderen, bspw. der politischen. Ich finde es enorm faszinierend, wie Menschen gerade in „Grenz-“ bzw. „Übergangsgebieten“ (derer es in Ost- und Südosteuropa, die mich besonders interessieren, nicht mangelt) versuchen, sich eine kohärente Identität zu konstruieren. Sich selbst zu sagen, wer sie sind, welcher übergeordneten Gruppe sie angehören, was ihre „Geschichte“ ist. Und meist gibt es dann Andere, die ihnen diese Identität verweigern (s. Ukraine oder Schlesien) oder aus dieser Zuschreibung politische Konsequenzen ziehen, die für die Betroffenen alles andere als angenehm sind (Bosnien, Kosovo, Russland gleich auf mehreren Ebenen…).
Doch es geht nicht nur um nationale/ethnische oder religiöse Identitäten. Sehr Ähnliches kann man bei „alltäglicheren“ Gruppen(selbst)zuschreibungen beobachten. Bauern. Vegetarier:innen. Grüne. Akademiker:innen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen, die in meinem Umfeld eine wichtige Rolle spielen.
Und ich frage mich immer wieder: Braucht es das? Warum haben wir dieses Bedürfnis, uns mit Gruppen zu identifizieren? (Ich schreibe bewusst „wir“ – auch wenn ich mich für vergleichsweise „identitätsfrei“ halte bzw. meine Identität eher über abstrakte Eigenschaften statt Gruppenzugehörigkeit konstruiere, müsste ich noch arroganter sein als sowieso schon, um zu behaupten, ich fühlte mich keinen Gruppen zugehörig) Denn eine Identifikation mit einer Gruppe – bspw. einer Nation – bedeutet, dass ich diese Gruppe explizit oder implizit als (relativ) homogen definiere. Sonst würde sie den Zweck einer Identität nicht erfüllen können. „Wir (in) Polen“ oder „Ihr Deutschen“ sind Konstrukte, die auch ich der Einfachheit halber verwende. Sie helfen, die Komplexität der Welt zu reduzieren und ihre Beschreibungen – und damit letztlich zwischenmenschliche Kommunikation – zu vereinfachen. Das Problem ist, dass eine „festere“ Identität, wie viele Menschen sie bspw. eben mit einer Nation verspüren, sich schnell verselbstständigen kann und es oft genug auch tut. Plötzlich werden der Gruppe Eigenschaften zugeschrieben, Meinungen, Präferenzen – die in vielen Fällen nicht einmal den repräsentativen Durchschnitt der Gruppe zutreffend beschreiben, geschweige denn ein zufällig aus dieser Gruppe „gezogenes“ Individuum.
Meine These: In jeder Identität schwingt ein eigengruppenbezogener Chauvinismus mit. Denn Identität erfüllt ihren Zweck nur, wenn sie positiv ist. Sie basiert auf Abgrenzung von Anderen (denn wenn es „uns“ gibt, muss es zwangsläufig auch „die Anderen“ geben). Und ja, man kann ein positives Selbstbild haben und sich von Anderen abgrenzen, ohne sie automatisch als „schlechter“ wahrzunehmen (lediglich als fremd, was nicht per se negativ sein muss). Aber es ist schwer. Und gerade wenn man die eigene Gruppe bedroht sieht – und das tun wir irgendwie fast alle in dieser komplexen Welt voller Probleme –, ist man dazu verleitet, bei der eigenen Gruppe ein Auge zuzudrücken und bei Anderen besonders auf Ausschau nach Verfehlungen zu sein.
Zurück also zur Frage: Braucht es das? Muss jede:r eine nationale (oder regionale) Identität haben? Ich weiß es nicht. Ich scheine sie nicht zu brauchen – aber erstens weiß ich nicht, ob ich mir das nicht nur einrede (z. B. weil ich bisher das Glück hatte, nie wirklich wegen meiner Herkunft von Anderen negativ behandelt zu werden); zweitens halte ich es für unklug, von anderen Menschen etwas zu erwarten, nur weil ich es kann/gut finde. Dazu sind wir viel zu unterschiedlich.
Ich bin in meinen eigenen Augen weder Pole noch Deutscher. Es sind für mich leere, irrelevante Kategorien. Und manchmal denke ich mir, dass die Welt besser wäre, wenn wir alle so denken würden (aber diese Annahme über eigene Überzeugungen ist womöglich das Einzige, was alle Vertreter:innen der Spezies Homo sapiens gemein haben;-). Ziemlich sicher bin ich, dass es schon ein Schritt nach vorne wäre, wenn wir uns darauf einigen würden, dass Nationalität und Ethnie subjektive Selbstzuschreibungen sind und einer Person nicht extern, auf Basis objektiver Eigenschaften zugewiesen werden können. Leider sind wir auch davon noch weit entfernt…