Einmal wieder gab es einen terroristischen Anschlag in einer europäischen Stadt. Einmal wieder zeigten sich große Teile der Bevölkerung erstaunlich vernünftig. Einmal wieder wurde dennoch darüber hinweg gesehen, dass anderswo terroristische Anschläge viel häufiger stattfinden, dass nicht nur hierzulande Menschen von Fanatikern getötet werden. Und einmal wieder erdreisten sich die AfD, die CSU und ihresgleichen, einen Anschlag dazu zu nutzen, eine Schließung der Grenzen zu fordern. Begründet wird das wie üblich – „wir Europäer“ seien in Gefahr, diese Gefahr sei abzuwenden, und das sei am besten zu erreichen, indem man die Grenzen schließt oder zumindest den Zufluss von Flüchtlingen sehr stark reguliert… Doch eigentlich geht es um blanken Rassismus. Nicht mehr und nicht weniger.
Zunächst ein paar Fakten. Erstens, in Europa sterben immer noch vergleichsweise wenig Menschen durch terroristische Anschläge. Zweitens, in einigen der in letzter Zeit begangenen Anschläge waren die Terroristen keine „eingeschleusten“ Flüchtlinge, sondern Menschen, die bereits länger in Europa gelebt hatten. Drittens, wenn jemand unbedingt einen Anschlag begehen möchte, wird er nicht davon aufgehalten werden, dass weniger Flüchtlinge aufgenommen werden. Zumal der Terrorismus inzwischen zu so alltäglichen Mitteln greift, dass Sicherheit nur durch kaum zu erreichende Totalität der Überwachung und Kontrolle zu erreichen wäre. All dies wollen AfD & Co. nicht einsehen. Doch vor allem wollen sie nicht einsehen, dass sie keine Argumente gegen die Aufnahme von Flüchtlingen haben – abgesehen von Rassismus.
Grundsätzlich kann man in diesem Kontext zwei Typen von ethisch begründeten Argumenten unterscheiden: konsequentialistische (Ergebnis-orientierte) und deontologische (Pflicht-orientierte). Das konsequentialistische Argument ist essentiell ein Abwägungsargument: wie viele Tote können wir vermeiden, wenn wir keine Flüchtlinge mehr hereinlassen? Selbst unter der wahnwitzigen Annahme (s. o.), dass eine Schließung von Grenzen dazu führen würde, dass in Europa keine terroristischen Anschläge mehr verübt werden – es sterben immer noch viel mehr Menschen in Syrien und Afghanistan (die größten Quellen von Flüchtlingen in Europa), auf dem Weg nach Europa (insbesondere im Mittelmeer) und in terroristischen Anschlägen anderswo als hierzulande. Und einen beträchtlichen Teil dieser Menschen kann man vor Tod und Leid bewahren, indem man sie als Flüchtlinge aufnimmt, möglichst ohne dass sie sich über das Mittelmeer oder die Balkanroute kämpfen müssen. Wenn man, wie in konsequentialistischen Argumentationen üblich, Ergebnisse von Handlungen gegneindander abwägt, um die ethisch beste von ihnen zu identifizieren, dann ist die Aufnahme von Flüchtlingen immer noch klar die richtige Handlung. Man mag sie als das kleinere Übel betrachten – aber man rettet eben mehr Menschen, indem man die Grenzen durchlässig lässt.
Nun zur Deontologie. Hier ist die Argumentation noch wesentlich einfacher. Wir haben Pflichten unseren Mitmenschen gegenüber. In Syrien, Afghanistan, Somalia und vielen anderen Ländern leiden Menschen. Deswegen fliehen sie. Die meisten von ihnen fliehen übrigens nicht weit – weil sie keine Mittel haben, weil sie zu sehr an ihrer Heimat hängen oder aus anderen Gründen. Nur ein relativ geringer Teil flieht nach Europa. Und diesen Menschen gegenüber sind wir zur Hilfe verpflichtet – weil wir in der Lage sind, ihnen zu helfen. Dies lässt sich nur schwer leugnen. Immerhin leben wir auf einem ungeheuer wohlhabenden Kontinent, in einem der wohlhabendsten und stabilsten Länder der Welt.
Eigentlich müsste man die konsequentialistische und die deontologische Argumentation kombinieren – denn innerhalb der deontologischen lässt sich einwenden, dass wir auch den potentiellen Terrorismusopfern gegenüber verpflichtet sind, ihren gewaltsamen Tod möglichst zu verhindern. Also müssen wir uns auch innerhalb der deontologischen Logik Abwägungen stellen. Doch da sowohl deontologische als auch konsequentialistische Überlegungen in die gleiche Richtung zeigen, verhält es sich mit einer Kombination aus ihnen nicht anders. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist ein moralisches Imperativ und auch hinsichtlich ihrer Konsequenzen angebracht.
Die einzige Möglichkeit, sich dieser Logik zu verschließen, besteht darin, zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen Unterschiede zu machen. Dass „unsere Leute“ sterben, zählt mehr. Moralische Pflichten haben wir vor allem gegenüber „unseren Leuten“. Wenn man so argumentiert, explizit oder implizit, kann man durchaus den Spieß drehen und zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Nichtaufnahme von Flüchtlingen gerechtfertigt wäre. Der Preis dieser Logik ist jedoch verheerend: einen Unterschied zwischen verschiedenen Menschen bezüglich ihres moralischen Wertes (in einer konsequentialistischen wie deontologischen Betrachtung) zu machen, wird nämlich üblicher- und berechtigterweise als Rassismus bezeichnet.
Kurzum: die Forderungen von AfD, CSU und ihresgleichen, aufgrund der terroristischen Anschläge in Berlin, Paris oder anderswo die Grenzen zu schließen, ist rassistisch begründet. Und als solche klar abzulehnen.