Was haben Kapitalismus und neoklassische Ökonomik gemeinsam? Sie sind Musterbeispiele dafür, wie man Kritik vereinnahmt.
Ich muss gestehen, dass es nicht gerade sehr konsequent ist, einerseits regelmäßig die Verwendung des Begriffs „Kapitalismus“ zu kritisieren, andererseits ihn aber immer wieder selbst zu verwenden. Leider ist es aber in vielen Kontexten ein praktisches Kürzel für das sperrige „das heutige Wirtschafts-/Gesellschaftssystem“ bzw. seine Teilaspekte. Es sei mir also verziehen, dass ich heute vom Kapitalismus schreibe. Man könnte im Grunde auch den Begriff Konsumgesellschaft verwenden, der aber genauso abgelutscht und unpräzise ist. Bleiben wir also bei Kapitalismus. Was ich genau meine, ergibt sich gleich.
Nun, meine These für heute: sowohl Kapitalismus als auch neoklassische Ökonomik sind äußerst gut darin, Kritik zu vereeinnahmen, sich zu eigen zu machen bzw. sich einzuverleiben. Obgleich viele dazu tendieren würden, diese beiden Phänomene – das vorherrschende gesellschaftlich-wirtschaftliche System sowie die vorherrschende ökonomische Lehre – in Beziehung zueinander zu setzen, oft mit der Behauptung, die neoklassische Ökonomik sei an der Perpetuierung des Kapitalismus mitsamt seiner negativen Auswüchse (Ungleichheit, Konsumismus, Umweltzerstörung, what have you) schuld. Ich bin davon nicht überzeugt und schon gar nicht würde ich die Behauptung wagen, dass die heute festzustellende Parallelität zwischen den beiden nicht zufällig sei. Es kann sein und wäre ein interessanter Diskussionspunkt, mir fallen aber spontan keine potenziellen Begründungen ein. Ich möchte also lediglich erstmal die Parallelität feststellen, eine Korrelation ohne Kausalzusammenhang sozusagen. So viel vorweg.
Zur Sache: die Kritik am Kapitalismus, an der Konsumgesellschaft oder generell an der modernen Gesellschaft äußert sich auf vielerlei Art und Weise. Ich würde nicht behaupten, dass jede solche Äußerung vom System zwangsläufig vereinnahmt wird. Meine These stützt sich eher auf anekdotische Evidenz aus den Bereichen, mit denen ich zu tun habe. Da gibt es vor allem zwei, die zu meiner These gut passen: Bio-Lebensmittel und Punk-Symbolik. Der Konsum von Bio-Lebensmitteln kann als eine implizite Kritik an der üblichen Art und Weise, wie die Versorgung der Gesellschaft mit Nahrungsmitteln funktioniert, aufgefasst werden. Für Menschen, die Fast Food, industrielle Landwirtschaft, Fleischfabriken, Gentechnik etc. ablehnen, sind Bio-Lebensmittel nicht nur eine Alternative – sie sind auch ein Symbol der Ab- bzw. Auflehnung. Bzw. sie waren es früher, als man sie noch lediglich in Reformhäusern und Tante-Emma-Bioläden bekam. Doch die Zeiten sind vorbei. Als die Lebensmittelindustrie (zu der ich auch die Supermärkte und Discounter zähle) bemerkte, dass die Nachfrage nach Bio wächst, ist sie auf den Zug gesprungen. Inzwischen bekommt man bei jedem Discounter zumindest ein paar Standard-Bioprodukte. Bei manchen mehr, bei manchen weniger, aber man muss als Bio-Nachfrager nicht mehr zwangsläufig zum „systemkritischen“ Bioladen gehen. Ganz zu schweigen davon, dass es inzwischen Bio-Supermarkt-Ketten gibt, auch eine neue Erscheinung, die Bio-Lebensmittel „systemkonformer“ macht (all dies gilt übrigens in ähnlicher Weise für Fair-Trade-Produkte). Natürlich ist diese Vereinnahmung nur partiell – Einkaufen im „richtigen“ Bioladen hat immer noch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal. Auch McDonald’s, das offensichtlich über eine völlig bescheuerte Marketing-Abteilung verfügt, ist kürzlich mit seiner Bio-Kampagne gescheitert (wie überraschend…). Doch die Grenze zwischen dem „systemischen“ Supermarkt/Discounter und dem „systemkritischen“ Bio-Lieferanten ist verschwommen.
Das zweite Beispiel betrifft die Symbolik von Aussteiger- und Protest-Subkulturen, insbesondere Punks, aber auch beispielsweise die Subkultur des Hip-Hop. Wie ein Punk aussieht, weiß jeder (zur Hilfe eine Abbildung): bunte, zerfetzte Klamotten, Ketten, gefärbte Haare, Irokesenschnitt etc. Früher waren diese Attribute Alleinstellungsmerkmale, sie hatten das Ziel, die eigene Ablehnung gegenüber der Mainstream-Gesellschaft, den eigenen Nihilismus zur Schau zu stellen und damit zu schockieren. Früher. Heutzutage ist an Punksymbolik orientierte Kleidung (+Makeup, Haarschnitte) sehr verbreitet und die entsprechenden Kleidungsstücke und Accessoires bekommt man in jedem H&M oder TK Maxx. Natürlich gibt es auch heute noch Punks, doch die schockieren bei Weitem nicht mehr so sehr wie früher. Das ist deutlich schwieriger geworden, denn das System verstand es, aus der Kritik Kapital zu schlagen – gerade Jugendliche möchten gern rebellisch wirken, ohne wirklich konsequent rebellisch sein zu müssen. Ein Irokesenschnitt und entsprechende Klamotten sind da eine willkommene niederschwellige Lösung.
So weit Kapitalismus/Konsumgesellschaft. Nun zu der versprochenen Parallelität zur neoklassischen Ökonomik. Doch erstmal kurze Einführung für Neueinsteiger: als neoklassische Ökonomik wird die viel kritisierte ökonomische Mainstream-Theorie bezeichnet, die ihre Wurzeln in der Zeit um die Jahrhundertwende herum hat (19./20. Jahrhundert, versteht sich). Das Gros dessen, was an Universitäten gelehrt wird, was unter dem Schild „Ökonomie“ publiziert wird (Fachzeitschriften wie Presse) und fast alle Nobel-Gedenkpreise lassen sich in diese Schublade stecken. Kernelemente der neoklassischen Ökonomik sind das Verhaltensmodell des homo oeconomicus und ein stark ausgeprägter Hang zur Formalisierung/Mathematisierung.
Was diese neoklassische Ökonomik auszeichnet, ist ihre enorme Persistenz. Seit sie Ende des 19. Jahrhunderts im ökonomischen Diskurs dominant wurde, wird sie ständig kritisiert – von den alten Institutionalisten (Veblen), von der Österreichischen Schule (Mises und teils Hayek), von Keynes und seinen Nachfolgern, von Marxisten, Verhaltensökonomen (Kahneman), von Vertretern der Ökologischen Ökonomik und der degrowth-Bewegung und neuerdings auch der Plurale-Ökonomik-Bewegung. Und dennoch ist und bleibt sie die dominante Lehre in der VWL, und das wahrscheinlich noch für eine Weile. Der Grund für diese hartnäckige Persistenz ist ähnlich wie beim Kapitalismus (s. oben), bloß wesentlich stärker ausgeprägt. [An dieser Stelle sollte ich sicherheitshalber betonen, dass das von mir hier diskutierte Phänomen der Anpassungsfähigkeit mitnichten der einzige Grund für die Persistenz der beiden Systeme ist, nicht einmal der wichtigste. Machtstrukturen und historische Zufälle, aus denen sie resultieren, wären bspw. ein Kandidat.]
Die neoklassische Ökonomik ist ein Paradebeispiel für das Prinzip des „Verschluckens“ der Kritiker. Sieht man sich das heutzutage unter diesem Label laufende Spektrum an Theorien, Ansätzen, Modellen und Subdisziplinen an, so sind die Unterschiede zu den Pionierarbeiten bspw. eines Alfred Marshall enorm. Doch der Kern ist geblieben. Um es mit Imre Lakatos zu sagen: der harte Kern des Forschungsprogramms der neoklassischen Ökonomik hat sich als sehr stabil erwiesen, während der „Schutzgürtel“ um den Kern herum sehr flexibel angepasst und erweitert wurde, um Kritiken zu akkommodieren. Aus Keynes’ Einwänden wurde die neoklassische Synthese, das IS-LM-Modell, Modifikationen in der Zinstheorie etc. Keynes selbst wäre mit diesen Verunstaltungen seines Werkes wahrscheinlich sehr unzufrieden – seine selbsternannten Jünger, die Post-Keynesianer, sind es auf jeden Fall –, doch die neoklassische Ökonomik schaffte es auf jeden Fall, Teile seiner Kritik aufzunehmen und sich so weiterzuentwickeln. Ähnliches gilt für den Institutionalismus (heute ist die sog. Neue Institutionenökonomik fester Bestandteil des neoklassischen Theoriegebäudes), die ökologische Kritik (neoklassische Umwelt- und Ressourcenökonomik), ja sogar teilweise für die Verhaltensökonomik (insbesondere behavioral finance erobert gerade die Salons der Mainstream-Ökonomik, vide der Nobel-Gedenkpreis vor 3 Jahren für Robert Shiller).
Doch ist die Neoklassik nicht nur extrem plastisch und flexibel, sie ist auch spätestens seit den Pionierarbeiten von Gary Becker in den 70er Jahren in ihrem Erklärungsanspruch und Forschungsinteresse allumfassend (Stichwort: ökonomischer Imperialismus), was es alternativen Ansätzen sehr schwer macht, sie ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Sie hat alles zu bieten: von Arbeitsmarktanalysen bis hin zu Umweltökonomik, von Mikro- bis zur Makroebene, von traditionellen Fragestellungen wie Preisbildung bis hin zu constitutional economics eines James Buchanan, Rechtsökonomik oder der ökonomischen Analyse der Ehe von Becker. Wohingegen sich auch die prominentesten Alternativschulen meist auf kleiner zugeschnittene Themengebiete spezialisieren: die Post-Keynesianer auf Makroökonomik, die Ökologischen Ökonomen auf Umweltfragen, die Verhaltens- und experimentellen Ökonomen vor allem auf Mikroökonomik… Es gibt hier und da Versuche, umfassendere alternative Theoriegebäude aufzubauen (wie z. B. an zzt. laufenden Kooperationsversuchen zwischen Ökologischen Ökonomen und Post-Keynesianern ersichtlich). Doch war das bisher viel zu wenig, um die Neoklassik ernsthaft ins Wanken zu bringen. Dagegen fällt es ihr leicht, Elemente der kritischen Strömungen (solche, die nicht an dem recht kleinen „harten Kern“ des Forschungsprogramms knabbern) zu absorbieren und sich zu eigen zu machen.
Zusammengefasst: Kapitalismus/Konsumgesellschaft und neoklassische Ökonomik sind im weitesten Sinne des Wortes Systeme (wenn auch auf völlig verschiedenen Ebenen), die durchaus etwas miteinander zu tun haben, da Letztere das Erstere zu erklären versucht und ihr gleichwohl vorgeworfen wird, dass sie es zu perpetuieren hilft. Es verbindet sie die Tatsache, dass sie unglaublich erfolgreich sind. Und dieser Erfolg resultiert zumindest zum Teil aus der enormen Flexibilität und „Fähigkeit“, Kritik zu vereinnahmen und sich zu eigen zu machen. Da beide auf nur wenigen Prinzipien basieren (einerseits: Konsum und Akkumulationsstreben, andererseits: homo oeconomicus), sind sie eben sehr wandlungsfähig.
Abschließend verlassen wir kurz den analytisch-deskriptiven Rahmen und fragen uns, wie das Ganze zu werten ist. Ist es gut oder schlecht oder neutral, dass der Kapitalismus und die neoklassische Ökonomik so flexibel und anpassungsfähig sind? (Da wir nicht von Technologie sprechen, nehme ich an, dass es keine vierte Option gibt.) Das kommt darauf an. Wenn man überzeugt ist, dass sie im „harten Kern“ schlecht sind und, wie ein guter Freund von mir im Bezug auf den Kapitalismus so gern sagt, „überwunden“ werden müssen, dann ist die Anpassungsfähigkeit natürlich schlecht. Denn solch ein bewegliches Ziel ist sehr schwer tödlich zu treffen. Wie Punks, Keynesianer und viele andere schmerzlich erfahren mussten. Sieht man jedoch den harten Kern als weniger problematisch bzw. hat man eine eher pragmatische und weniger „umsturzorientierte“ Einstellung – wie ich –, dann kann diese Anpassungsfähigkeit zumindest als nicht vollends schlecht empfunden werden. Denn immerhin wandelt sich das jeweils problematische System zum Besseren, indem es auf Kritik reagiert – wenn auch immer letztlich nach eigenen Regeln. Z. B. wage ich zu behaupten, dass Bio-Lebensmittel im Supermarkt, obwohl sie unter vielen Gesichtspunkten problematischer sind als Bio-Lebensmittel im Bioladen, dennoch besser sind als nur Fraß aus industrieller Landwirtschaft. Dass Penny nun krummes Bio-Gemüse anbieten möchte, mag ein Werbegag in Hoffnung auf mehr Gewinn sein. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dadurch weniger Lebensmittel verschwendet werden könnten. Genauso finde ich es begrüßenswert, dass man inzwischen auch mit Mainstream-Ökonomen über den Wert von nicht auf Märkten gehandelten Umweltgütern reden kann und dass inzwischen als Spinner gilt, wer fest ans Say’sche Gesetz und die efficient market hypothesis glaubt. Damit ist man von der idealen Welt noch weit weg – es kann sogar sein, dass man sich so von ihr entfernt, weil die betreffenden Systeme mit jeder absorbierten Kritik stärker und stabiler werden. Die Frage ist, ob es rational ist, in Hoffnung auf die Utopie graduelle Verbesserungen der Wirklichkeit hier und jetzt abzulehnen.