Profite, Zinsen und Wachstum

Kapitalismus ist die Wurzel alles Bösen. Dies ist eine altbekannte „Wahrheit“, der man im wachstumskritischen Diskurs recht häufig begegnet, nolens volens. Alles, was schlecht ist, wird dem Kapitalismus zugeschrieben, und alles, was „kapitalistisch“ anmutet, muss schlecht sein. Folgerichtig wird auch oft behauptet, man sei innerhalb eines kapitalistischen Systems zum Wachstum verurteilt – und dauerhaftes Wachstum ist bekanntlich ein Problem. Daher müsse man den Kapitalismus überwinden. Ob dies im Allgemeinen stimmt, wurde hier bereits einmal diskutiert. Heute widmen wir uns zwei speziellen Attributen des Kapitalismus, die uns vermeintlich zum Wachstum „verdammen“: Profitorientierung und Zinsen.

Oft wird unterstellt, dass in einer profit- bzw. gewinnorientierten Wirtschaft Wachstum und damit verbundene Übel wie Umweltzerstörung, soziale Ungerechtigkeit etc. unvermeidlich seien. Die Logik ist recht einfach: dauerhaftes Wachstum gilt als schlecht (wohl zu recht). Und wenn einzelne Firmen gewinnorientiert agieren, heiße das, dass sie auf Wachstum hin arbeiteten, und damit müsse auch die Volkswirtschaft wachsen. Doch dies ist falsch. „Profite“ müssen an sich noch nicht böse sein, es kommt vielmehr darauf an, ob die Gewinnorientierung in eine Wachstumsorientierung mündet.

Was heißt es, gewinnorientiert zu funktionieren? Das heißt nichts Anderes, als mehr erwirtschaften zu wollen, als man in ein Unternehmen investiert hat. Und wie macht man das? Indem man seine Produkte/Dienstleistungen für mehr Geld verkauft, als man vorher ausgeben musste, um die Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeitskraft…) zu erwerben. Sprich, ich investiere X, verkaufe das Produzierte für X + y, wo y der Gewinn ist. Wenn ich das jedes Jahr tue, wachse ich dann zwangsläufig? Mitnichten. Zunächst ist y das Einkommen der Unternehmerin. Wenn die Unternehmerin es verkonsumiert und im nächsten Jahr einfach wieder X investiert, kann sie problemlos Jahr für Jahr Gewinn erwirtschaften, ohne wachsen zu müssen. Erst wenn sie jedes Jahr einen Teil des Gewinns mitinvestiert, führt das zu Wachstum. Das ist aber keine Gewinnorientierung mehr, sondern Wachstumsorientierung. Mit anderen Worten: auch in einer Postwachstumsgesellschaft können Unternehmen grundsätzlich gewinnorientiert funktionieren.

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Was der Gute wohl über Postwachstumsideen sagen würde?

Doch wenn sie nur X investiert, wie ist es möglich, dass die Unternehmerin X + y einnehmen kann? Ist das nicht irgendwie verdächtig? Das ist doch schon ein Wachstum um y, oder? Ja, es ist „Wachstum“, allerdings einmaliges, und damit unproblematisch. Und woher kommt es? Dass ein Unternehmen Gewinn erwirtschaftet, ist die logische Folge der Tatsache, dass es überhaupt Unternehmen gibt (oder anders herum, je nach Betrachtungsweise). Unternehmen gibt es, wie Ronald Coase 1937 in seinem berühmten Aufsatz zur Theory of the Firm erklärt hat, weil derartige Institutionen die Produktion so organisieren können, dass sie einen Mehrwert schaffen: jeder von uns könnte sich rein theoretisch, sagen wir mal, selbst seinen Laptop herstellen. Wir müssten nur die notwendigen Rohstoffe und Werkzeuge kaufen, im Internet eine Bauanleitung finden und „basteln“. Doch warum sollten wir es tun, wenn eine Fabrik das viel günstiger, schneller und besser machen kann – weil sie sich darauf spezialisiert? Und genau weil sie dank Spezialisierung es besser machen kann als wir selbst, sind wir bereit, sie dafür zu entlohnen – und daraus resultiert ihr Gewinn. Wäre der Laptop nicht wertvoller als die Summe der zu seiner Herstellung notwendigen Produktionsfaktoren, würde dies bedeuten, dass man ihn genauso gut selbst herstellen kann.

Wer meine Ausführung zu nicht wachstumsinduzierender Gewinnorientierung aufmerksam verfolgt hat, dem dürfte aufgefallen sein, dass es da ein Problem gibt: woher nimmt die Unternehmerin am Anfang des Jahres das Geld für die Produktionsfaktoren, das X, noch bevor sie irgendwas produziert hat? Üblicherweise nimmt sie ein Kredit auf. Und Kredite sind in der Regel verzinst. Warum sind sie es? Weil Geld, mithilfe dessen man seine Produktion vorfinanzieren könnte, knapp ist – wer es besitzt (sprich: Banken und Anleger), möchte für die Beteiligung und das Risiko, das er/sie eingeht, entlohnt werden. Mit den Zinsen ist die Sache wesentlich komplizierter als mit Gewinn. Hier gibt es ernstzunehmende Autoren, die behaupten, teils auf Grundlage von Modellen, dass eine Wirtschaft, in der die Produktion durch verzinste Kredite vorfinanziert wird, wachsen muss. Die grobe Logik ist etwa die folgende: wir denken uns eine einfache Wirtschaft mit einem Unternehmen, einem Haushalt (der alle Produktionsfaktoren besitzt) und einer Bank. Am Anfang einer Produktionsperiode nimmt das Unternehmen einen Kredit in Höhe von F auf. Dieses Geld wird vollständig für Produktionsfaktoren aufgewendet, d. h., F wandert von der Bank zum Unternehmen und gleich danach vom Unternehmen zum Haushalt. Nun möchte die Bank aber nicht einfach nur F zurück haben, sondern einen Zins z oben drauf. Das bedeutet, dass das Unternehmen, um keine Verluste zu machen, seine Produkte für F + z verkaufen muss. Problem? Der Haushalt, der einzige Abnehmer der Produktion, verfügt nur über F, das er für die Produktionsfaktoren bekommen hat. Das Unternehmen muss also einen neuen Kredit aufnehmen, diesmal in Höhe von mindestens F + z, um den Haushalten neues Geld zu geben, damit sie die Produkte aus der ersten Periode für F + z kaufen können und das Unternehmen somit den ersten Kredit zurückzahlen kann. Leider entsteht diese „Lücke“ zwischen dem Geld, über das der Haushalt verfügt, und dem Wert der Produktion, der notwendig ist, damit das Unternehmen seinen Kredit zurückzahlen muss, in jeder Periode aufs Neue. Das bedeutet, dass das Unternehmen immer mehr investieren und immer mehr produzieren, wodurch der Haushalt immer mehr konsumieren muss. Fertig ist die Wachstumsspirale.

Klingt überzeugend, oder? Und es bestätigt die Intuition, die viele haben: um verzinste Kredite zurückzahlen zu können, müssen Unternehmen noch mehr Profit erwirtschaften, als sowieso schon (damit auch die bösen Banken ihrerseits Profite haben), also müssen sie wachsen. Stimmt’s? Doch leider unterliegt sowohl die Intuition als auch das oben skizzierte Modell einem Denkfehler. Denn das Modell übersieht einen essentiellen Aspekt: was passiert mit dem z? Wird es verbrannt? Verschwindet es in einem schwarzen Loch? Nein. Üblicherweise gehört die Bank nämlich dem Haushalt. Das z ist der Gewinn der Bank, der als Einkommen an den Haushalt ausgeschüttet wird. Womit die vermeintliche Lücke verschwindet. Das Unternehmen kann getrost in jeder Periode einen gleich hohen Kredit aufnehmen, gleich viel produzieren und einen konstanten Gewinn erwirtschaften (siehe oben).

Was ich mit dem Ganzen sagen möchte, ist nicht, dass das moderne Banken- oder gar das Finanzsystem unproblematisch wären. Oder dass gewinnorientierte Unternehmen nicht oft auch wachstumsorientiert wären. Oder dass andere Zwänge auf vielen Märkten eine gewisse Wachstumsorientierung nicht erzwingen könnten. All dies sind reale Probleme, die man angehen muss, wenn man sich eine nachhaltige Wirtschaftsordnung herbeiwünscht. Doch hoffe ich einleuchtend gezeigt zu haben, dass sowohl Gewinnorientierung als auch Zinsen nicht grundsätzlich postwachstumsinkompatibel sind. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

2 Gedanken zu “Profite, Zinsen und Wachstum

  1. 1. Mir ist noch ein Fehler bei deiner Unternehmerin aufgefallen: Warum investiert sie jedes Jahr X um Profit y abzuschöpfen? Normalerweise reicht es, einmal zu investieren und jedes Jahr y zu erhalten.
    2. Vergiss im Modell der Schuldenspirale den Schuldenschnitt nicht. Wird gern vergessen, wenn ich mich aber noch recht an Graeber erinnere, ist dieser historisch gesehen eher die Regel als die Ausnahme.
    3. Mein allgemeiner Kommentar: Deinem grundsätzlichen Fazit stimme ich grundsätzlich zu. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass du deinen Text mit dem „bösen Kapitalismus“ einleitest. Unter kapitalistischen Bedingungen (diese Bedingung lässt du in deinem Fazit außenvor) verkonsumiert die Unternehmerin garantiert nicht ihren Profit, sondern hat das Ziel ihn möglichst profitabel wieder zu reinvestieren. Das ist nunmal ein essentielles Merkmal des Kapitalismus. Ergo gibt es im Kapitalismus durchaus einen Wachstumszwang.
    4. Übrigens hätte dich der gute Marx harsch kritisiert, dass du die Mehrwertproduktion auf Arbeitsteilung aber nicht auf die Arbeitskraft zurückführst. Hätte Coase mal Marx besser studiert. 😉

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    • Zu 1: Du verwechselst zwei verschiedene Arten von Kosten/Investitionen. Was du meinst, sind einmalige Investitionen in Maschinen, Gebäude etc. Was ich in dem Beispiel mit X meine (bzw. meinen es Hans Christoph Binswanger und sein Sohn Mathias), sind vielmehr regelmäßige Investitionen in Rohstoffe, Arbeitskraft etc.

      Zu 2: Es gibt mehr als diesen einen Fehler bzw. zumindest weitere Unzulänglichkeiten im Binswanger’schen Modell der Wachstumsspirale. Schuldenschnitt könnte man zu der Liste hinzufügen. Allerdings ist die Frage der Verwendung des Zinseinkommens innerhalb des Modells entscheidend – und gibt ihm sozusagen den Todesstoß (bei Schuldenschnitt und einigen weiteren Beispielen könnte man das Modell noch damit verteidigen, dass dies keine gewöhnlichen Ereignisse sind, sodass es zulässig ist, über sie hinweg zu abstrahieren).

      Zu 3: Das kommt natürlich auf die Definition des Kapitalismus an (wie du weißt, kann ich den Begriff nicht ausstehen, deswegen benutze ich ihn eigentlich nur, weil er in den Diskussionen, auf die ich mich hier beziehe, hartnäckig auftaucht). Aber du hast Recht, dass bestimmte Charakteristika unseres derzeitigen Wirtschaftssystems dazu führen, dass die Gewinnorientierung sehr oft mit einer Wachstumsorientierung einher geht – und das ist tatsächlich ein (strukturelles) Problem. Mein Ziel war es primär, aufzuzeigen, dass die Gewinnorientierung als solche nicht problematisch sein muss.

      Zu 4: Ich habe Coase eigentlich missbraucht, weil er Unternehmen vor allem über die Existenz von Transaktionskosten erklärt hat: wir gründen hierarchisch aufgebaute Organisationen, statt jedes einzelne Produktionsereignis über Märkte zu regeln, weil Letzteres schlicht und einfach wegen Vertrags-, Such- und sonstigen Transaktionskosten zu teuer/ineffizient wäre. Was übrigens zeigt, dass Märkte eben nicht alles können. Den Hinweis auf Marxens Wertlehre ignoriere ich hier mal, weil ich sie für Unsinn halte;-)

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