Warum ist Ungleichheit schlecht?

Oder sollte die Frage vielleicht lauten: ist sie überhaupt schlecht?

Es ist zwar nicht wirklich mein „Kernthema“, aber ich habe mich hier auf dem Blog bereits zweimal (hier und da) an das Thema Gerechtigkeit herangetastet, teilweise inspiriert von einer aktuellen Debatte in der Süddeutschen (Links siehe „da“). In der betreffenden Debatte, ja generell wird (distributive) Gerechtigkeit mit Gleichheit gleichgesetzt: wenn es gerecht zuginge, wären die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen Menschen vernachlässigbar, außer in Fällen, in denen jemand für sich beschließt, er/sie begnügt sich freiwillig mit weniger. Unsere moralische Intuition schreit auf, wenn wir lesen, dass bspw. Herr Zetsche ein jährliches Einkommen im siebenstelligen Bereich hat oder dass Paris Hilton mit Geld überschüttet wird, einfach weil sie zufällig die Tochter eines reichen Mannes ist. Die meisten von uns finden Ungleichheit schlecht. Doch ist sie das wirklich?

Dass ich diese Frage überhaupt stelle (vor kurzem noch wäre ich gar nicht darauf gekommen), liegt daran, dass ich in einem Buch zufällig gelesen habe, dass es so etwas wie philosophische Egalitarismuskritik gibt. Also besorgte ich mir ein anderes Buch, einen Sammelband mit dem Titel Gleichheit oder Gerechtigkeit. Und siehe da: die Egalitarismuskritiker hinterfragen auf durchaus überzeugende Art und Wiese das Primat der Gleichheit im Gerechtigkeitsdiskurs. Noch interessanter aber: das Ergebnis der alternativen Ansätze der Kritiker ist in den meisten Fällen trotzdem egalitär.

Ich möchte an dieser Stelle nicht die Argumente der Egalitarismuskritiker wiedergeben – diese sollte man sich am besten selbst zu Gemüte ziehen. Insbesondere empfehlenswert ist ein Text von Elizabeth S. Anderson What Is the Point of Equality? (in dem oben erwähnten Band gekürzt als Warum eigentlich Gleichheit?). Sehr stark zusammengefasst geht es darum, dass die betreffenden Philosophen finden, das Ziel sollte nicht sein, dass Menschen mit irgendwas gleich ausgestattet werden sollten, sondern vielmehr, dass jedem ein Mindestmaß zugesichert werden sollte – ein Mindestmaß an Einkommen, politischer Beteiligungsmöglichkeit, Zugang zu medizinischer Versorgung, what have you.

Nun, in meinen bisherigen die Gerechtigkeit tangierenden Beiträgen ging es primär um materielle (Un-)Gleichheit. Und nachdem ich das oben erwähnte Büchlein durchgelesen habe, fing ich an, mich zu fragen, ob materielle Ungleichheit, sei es bezüglich Einkommen oder Vermögen, an sich problematisch ist. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass die Antwort lautet: nein.

Das Problem an materieller Ungleichheit ist nicht, dass manche mehr haben und andere weniger – dafür gibt es genug Gründe bzw. Gerechtigkeitsprinzipien, die Abweichungen von einer Gleichverteilung gerade nahelegen, wie bspw. das Verdienst- oder das Leistungsprinzip. Das Problem ist vielmehr, dass in unserer Gesellschaft (ja, in wahrscheinlich nahezu allen Gesellschaften der letzten 2-3 Jahrtausende) ein relativ betrachtet hohes Maß an materiellen Möglichkeiten mit politischer Macht verbunden ist. Leider. Denn selbst aus Sicht der Egalitarismuskritiker funktioniert ein Mindestmaß an politischem Einfluss/demokratischer Beteiligungsmöglichkeit nur, wenn diesbezüglich Gleichheit herrscht. Anders als im Falle von Einkommensungleichheit aufgrund unterschiedlicher Leistung lässt es sich nicht wirklich begründen, warum manchen mehr politische Freiheit und Einflussmöglichkeit (z. B. im Prinzip one person, one vote oder in Prinzipien der Gleichbehandlung und des gegenseitigen Respekts in deliberativen Demokratiekonzepten) zustehen sollte als anderen.

Mit anderen Worten, es wäre kein allzu großes Problem*, dass Herr Zetsche 8 Mio. € im Jahr verdient, wenn dies nicht gleichzeitig bedeuten würde, dass er und seinesgleichen unverhältnismäßig viel politische Macht haben (können). Nicht ohne Grund ist die Formulierung follow the money in vielen politischen Debatten so populär (und leider oft zutreffend). Natürlich führt eine solche Logik zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie traditioneller Egalitarismus – eine übertriebene distributive Ungleichheit ist zu beseitigen. Doch der Grund ist nicht, dass Gleichheit als solche erstrebenswert wäre, sondern dass materielle Ungleichheit dazu führt, dass in anderen Feldern nicht alle über ein Mindestmaß an weiteren gerechtigkeitsrelevanten „Gütern“ verfügen (in diesem Fall: politische Teilhabe).

Es wäre in diesem Kontext interessant zu wissen, ob Menschen immer noch Vermögen anhäufen würden, wenn dies nur mit Wahlfreiheit bzw. der Freiheit, das zu tun, worauf man Lust hat, verbunden wäre, nicht aber mit politischer Macht. Leider werden wir dies wohl nie erfahren – so erstrebenswert ein politisches System wäre, das gegen unfaire Einflussnahme durch wohl Betuchte immun ist, so unwahrscheinlich ist seine Umsetzung. Und daher laufen die von Egalitarismuskritikern vorgeschlagenen Ansätze letztlich doch auf mehr Gleichheit hinaus – aber nicht, weil Gleichheit an sich etwas Erstrebenswertes wäre, sondern weil wir Menschen so gern verdiente Vorteile in einem Bereich in unverdiente Vorteile in anderen ummünzen.

*Natürlich lässt sich derart krasse Einkommensdiskrepanz kaum im Rahmen irgendeines halbwegs akzeptablen Gerechtigkeitskonzepts rechtfertigen. Herr Zetsche und seinesgleichen tragen kaum mehr Verantwortung als ein Arzt, leisten kaum mehr als ein Lehrer und haben kaum mehr Grundbedürfnisse als ein Obdachloser (oder sonst irgendwer). All dies ruft nach mehr Gleichheit, aber eben nicht der Gleichheit selbst wegen.

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