Kürzlich fand in meiner sogenannten „Heimat“ die Parlamentswahl statt. Die Ergebnisse sind zwar nicht wirklich überraschend, aber dennoch ernüchternd. Ein unübersehbarer Rechtsruck fand statt – es gibt nun keine einzige linke Partei im polnischen Oberhaus (Sejm), die rechtskonservative PiS errang die absolute Mehrheit. Beides hatte es in dem schon vorher überkonservativen Polen seit ’89 nicht gegeben. Doch nicht über die Wahl wollte ich schreiben – dazu gab es auch in deutschen Medien genug. Was mir in ihrem Kontext auffiel, ist ein (scheinbares?) Paradoxon: der durchschnittliche Pole ist zugleich seinen Mitmenschen gegenüber extrem misstrauisch und ein Patriot bis Nationalist.
Fangen wir mit dem Patriotismus/Nationalismus an: es gibt im Sejm nun 4 Parteien. Die regierende PiS ist nationalistisch (obgleich sie, untypischerweise, ein sehr „linkes“ Wirtschaftsprogramm hat) – als großes Vorbild gilt Viktor Orbán, der umstrittene Ministerpräsident Ungarns, der nicht nur immer wieder mit wahlweise nationalistischen oder rassistischen (bevorzugt: antiziganistischen) Bemerkungen auffällt, sondern auch die offen neofaschistische Jobbik-Partei gewähren lässt. Neben den Orbán-Verehrern PiS gibt es noch die bisherige Regierungspartei PO, die ebenfalls rechtskonservative, systemkritische Kukiz’15-Partei (benannt nach dem Rock-Sänger Paweł Kukiz, der die Partei gegründet hatte), die wirtschaftsliberale .Nowoczesna sowie die unkaputtbare, ultranepotistische und ebenso opportunistische Bauernpartei PSL (Motto: „Wir koalieren mit jedem, solange wir unsere Verwandten mit gut bezahlten Posten versorgen können.“). Außer .Nowoczesna und Teilen der PO zeichnen sich all diese Parteien durch einen zumindest rhetorischen „Patriotismus“ aus, der sich auch in einer generellen Skepsis gegenüber europäischer Integration äußert. Und dies spiegelt die Ansichten eines durchschnittlichen Polen wider, die von nationalen Mythen (v. a. die ewige Bedrohung durch Deutschland und Russland) und einem zumindest deklarativen Katholizismus geprägt sind.
Man könnte vielleicht denken, dass eine so stark ausgeprägte Orientierung an nationaler Identität damit einhergeht, dass man ein besonders starkes Gemeinschaftsgefühl mit anderen Polen hat. Klar, allen nicht-Polen (insbesondere: Russen, Deutschen, Juden und Muslimen) gegenüber ist man misstrauisch, das ist verständlich und passt gut zum Patriotismus/Nationalismus. Aber den Mit-Polen gegenüber müsste man doch aufgeschlossen sein, oder? Mitnichten. In kaum einem anderen europäischen Land ist das Misstrauen gegenüber anderen Menschen so gering wie in Polen (nur etwa 10-15% der Polen sind der Meinung, dass man anderen Menschen generell vertrauen kann). Der polnische Patriotismus ist auf eine seltsame Art und Weise abstrakt – das Denkkonstrukt „Nation“, das eigentlich ein Gefühl der Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern derselben impliziert, wird nicht auf den eigenen Nachbarn übertragen. Es wird sich relativ klar von den „Anderen“ abgegrenzt – es gibt aber kein richtiges „Wir“. Das „Wir“ ist größtenteils ein abstraktes Ideal, das man im alltäglichen Leben nicht vorfindet – ja, nicht sucht.
Dies erscheint paradox. Und das ist es auch. Aber wenn er schon allen Anderen misstraut, scheint der Mensch dennoch das Bedürfnis zu haben, einer Gruppe anzugehören – wir kommen kaum ohne Identität aus. Die PSL ist da noch vergleichsweise konsequent – rhetorisch patriotisch, fokussiert sie sich in Wirklichkeit völlig auf die Verwandten/Kumpels. Die meisten Polen scheinen aber schon an die „Nation“ als die identitätsstiftende Gemeinschaft zu glauben. Da sie jedoch im Alltag den meisten Mitmenschen misstrauen, ist das Resultat ein spezifischer, extrem rückwärtsgewandter Patriotismus: die „Nation“ hat mehr mit den Helden der Vergangenheit, mit Johannes Paul II., den Aufständischen von 1944, 1830/31 und 1863/64 sowie mit den berüchtigten „verstoßenen Soldaten“ (żołnierze wyklęci) zu tun als mit der heutigen polnischen Gesellschaft.
Dies ist keine rein polnische Erscheinung – Ähnliches kann man in Ungarn oder Russland feststellen. Doch ist mein Eindruck, dass dieses Paradoxon in meiner „Heimat“ besonders stark ausgeprägt ist. Und viele sekundäre Phänomene erklärt, die mich an Polen stören, wie bspw. das Nichtvorhandensein der Zivilgesellschaft oder die generell egoistische Mentalität (wenn man Anderen nicht über den Weg traut, warum sollte man sich um ihr Wohl kümmern?). Die Parlaments- und die ebenfalls kürzlich abgehaltene Präsidentschaftswahl können daher als Symptome dieses seltsamen Paradoxons gesehen werden. Einen Ausweg daraus sehe ich nicht.

[…] einer neuen Studie seien die Polen Anderen gegenüber misstrauisch. So lese ich in einem Blog hier. Nicht nur den Fremden, den Ausländern, den Flüchtlingen gar, nein, auch den Nachbarn trauten […]
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