Es gibt da eine Buchreihe, die außerhalb Polens eher wegen des auf ihr basierenden Computerspiels bekannt ist (sie wurde auch verfilmt, aber der Film ist grottenschlecht). Abgesehen davon, dass die Bücher der Reihe zu meinen absoluten Favoriten gehören, hat die Geschichte ein „psychologisches Leitmotiv“, an das ich mich in letzter Zeit immer wieder erinnern muss – das Prinzip des „kleineren Übels“. Die Hauptfigur weigert sich konsequent, in Konflikten, die sie eigentlich nicht betreffen, sich auf eine Seite zu stellen, muss aber immer wieder feststellen, dass dies nicht möglich ist – sie muss sich jeweils für das kleinere der beiden zur Verfügung stehenden Übel entscheiden, so sehr ihr das zuwider ist. Im Grunde ist die Entscheidung zwischen kleineren und größeren Übeln eine pessimistische Version des Grundprinzips der Ökonomik, das man, Karl Popper paraphrasierend, mit „Alles Leben ist Abwägen“ umschreiben könnte.
Nehmen wir zwei Beispiele, die die Welt (meine Wenigkeit eingeschlossen) in letzter Zeit bewegen: die Euro- und die Flüchtlingskrise(n).
Beim Euro bzw. konkret im Falle Griechenlands haben wir es mit einem multidimensionalen Dilemma zu tun (ich möchte auch nicht behaupten, dass ich es vollends überblicke – ich schildere hier nur meine auf teilweiser Ignoranz basierenden Überlegungen). Die stark vereinfachte Version des Problems ist folgende: Griechenlands Regierungen haben sich über Jahre unverantwortlich stark verschuldet (was ja an sich nicht gerade eine Eigenheit der Griechen ist, sondern ein recht verbreitetes Phänomen), irgendwann kam jedoch eine weltweite Wirtschaftskrise, durch die diese Schulden von heute auf morgen aus Sicht der ominösen „Finanzmärkte“ untragbar wurden. Der griechische Staat war plötzlich nicht mehr zum „Schuldenschieben“ (alte Kredite und Zinsen mit neuen Krediten zurückzahlen) fähig, weil keiner ihm Geld leihen wollte, es sei denn zu prohibitiv hohen Zinskosten. Da jedoch Griechenland Teil der Eurozone ist und mit anderen Euro-Ländern sehr stark verknüpft, meinen diese, es nicht einfach bankrott gehen lassen zu können (zumal keiner so richtig weiß, wie das gehen soll – mit Ausnahme Argentiniens, das Ende der 90er sich unilateral zahlungsunfähig erklärte, gab es bisher keine nennenswerten Staatsbankrotte und es gibt auch keine Regeln dafür). Also pumpt man massiv Geld nach Griechenland (bzw., eigentlich, zu den Kreditgebern, die Griechen sehen die entsprechenden Gelder nur ganz kurz), das im Gegenzug an allen Ecken sparen soll, um den Schuldenberg abzutragen. Warum erlässt man die Schulden nicht einfach? Nun, die Begründungen sind zweierlei: erstens befürchtet man Reperkussionen durch die Ausfälle bei den Kreditgebern, zweitens möchte man vermeiden, dass andere Mitglieder der Eurozone auf die Idee kommen könnten, auf Pump leben zu können, weil die anderen Staaten sie ja retten werden (so ähnlich wie dies im internationalen Bankensektor war und ist, der sich hinter dem Schlagwort too big to fail versteckt). Also müssen die Griechen sparen und leiden, weil sie vorher Fehler begingen.
Soweit die einfachere Version der Geschichte. Doch die ist eigentlich viel komplexer. Erstens kann man den Griechen nicht die ganze Schuld geben – von ihren Kreditgebern hätte man bspw. erwarten können, dass sie wissen, was sie tun, wenn sie dem griechischen Staat immer und immer wieder Geld liehen. Dass das ganze System ins Wanken kam, „verdanken“ wir unmittelbar der Finanzkrise 2008, aber es war ein System, das irgendwann krachen musste. Auch könnte man gut argumentieren, dass die Währungsunion das zugrundeliegende Problem war – sie ist so designt, dass sie nicht richtig funktionieren kann. Gemeinsame Geldpolitik ohne gemeinsame Fiskalpolitik? In einer so ungleichen Gruppe von Ländern? Wie denn? Zweitens sind es sogar innerhalb Griechenlands wie üblich nicht die eigentlich Schuldigen, die unter der Austeritätspolitik leiden müssen, sondern vielmehr die Bevölkerung, die zwar die schuldigen Regierungen gewählt hat (zumindest die älteren Bevölkerungskohorten) – ob sie deswegen in „Sippenhaft“ genommen werden kann, ist jedoch zumindest fraglich. Drittens ist es sehr fragwürdig, ob die derzeit betriebene Austeritätspolitik effektiv ist – sie mag eine abschreckende Wirkung haben, aber eigentlich zögert sie nur den Moment hinaus, in dem man Griechenland als zahlungsunfähig wird akzeptieren müssen. Nebenbei wird aber die Wirtschaft und die Gesellschaft des Landes zugrunde gerichtet. Man muss vielleicht nicht unbedingt Parallelen zum Versailler Vertrag erkennen, aber die Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit der Austeritätspolitik anzuzweifeln ist durchaus angebracht.
Was tun? Hier wird die Sache noch komplizierter. Der Euro ist ein Problem, ihn aber einfach aufzugeben ist keine Lösung – dies war eine Option bevor die Währungsunion gegründet wurde, inzwischen wäre ein Ausstieg aus dem Euro wohl noch schmerzhafter, als seine Aufrechterhaltung. Hört man mit der Austeritätspolitik auf und erlässt Griechenland einen Teil seines Schuldenberges, rettet man wahrscheinlich das Land – untergräbt aber die Glaubwürdigkeit jeglicher Vorgaben zur Staatsverschuldung (im Ökonomensprech: man kreiert ein moral-hazard-Problem). Von welcher Seite man die Sache auch betrachtet, erkennt man keine guten Lösungen – es gibt nur schlechte und schlechtere. Zwischen diesen muss man abwägen, nach dem Prinzip des kleineren Übels eben. Natürlich kann man hoffen, dass jemand hier und da etwas aus dieser Krise gelernt haben wird und bspw. die Währungsunion oder die Regeln des Bankensystems reformiert werden. Kurzfristig aber gibt es keinen wirklich zufriedenstellenden Ausweg. Und auch die Hoffnung auf künftige Vernunft erscheint… naiv?
Gewissermaßen ist die Flüchtlingskrise ein ähnlicher Fall. Es versuchen immer mehr Flüchtlinge, nach Europa (hier = Europäische Union) zu kommen. Manche von ihnen fliehen vor Krieg, andere vor Armut. Der derzeitige „Ansatz“, den man getrost „Festung Europa“ nennen kann, ohne sich in die Gefahr zu begeben, eines argumentum ad Hitlerum bezichtigt zu werden, ist nicht tragbar. Es sterben jährlich Hunderte von Menschen an den Außengrenzen der EU, in dem verzweifelten Versuch, in das vermeintliche land of promise zu gelangen. Doch leider hat das land of promise generell kein großes Interesse an den Millionen Flüchtlingen, außer vielleicht sie könnten demografische Lücken stopfen. Natürlich ist auch dieses Problem vielschichtig, denn es kommt hinzu, dass auch Lösungen innerhalb der EU, für die Flüchtlinge, die hier ankommen, ohne an den Grenzen der „Festung“ zu zerschellen, untragbar sind (Stichwort Dublin II).
Das Problem ist, dass es auch für dieses Problem keine vollends zufriedenstellenden Lösungen gibt. Selbst wenn die Extremrechten übertreiben mit ihren Parolen, die Asylanten „klauten“ uns öffentliche Mittel und Jobs, ist es doch richtig, dass die EU begrenzte Aufnahmekapazitäten hat und die Aufnahme größerer Flüchtlingszahlen zu zumindest vorübergehenden Verwerfungen in den Gastgebergesellschaften führen dürfte (für ein gutes Buch dazu siehe hier). So problematisch und unscharf die Trennung zwischen Wirtschafts- und politischen Flüchtlingen ist, so zutreffend ist die Feststellung, dass die EU niemals in der Lage sein wird, alle Flüchtlinge aufzunehmen. Ein Auswahlverfahren der einen oder anderen Art wird auf jeden Fall notwendig sein, selbst wenn sich die EU von ihrer irren Abschottungspolitik verabschieden und die Rechten zur Ruhe bringen sollte. Das Ziel sollte eigentlich sein, die dem Flüchtlingsstrom zugrundeliegenden Ursachen in den Herkunftsländern anzugehen – nicht nur den IS, sondern auch die Armut in Afrika und anderen Teilen der Welt. Doch ist das viel leichter gesagt als getan. Die bisherigen Versuche, humanitäre Krisen nicht nur zu lösen, sondern auch zu vermeiden, mögen ja verfehlt gewesen sein. Doch es bestehen Zweifel, ob es sich wirklich wesentlich besser machen lässt. Und selbst wenn, es geht hier um langfristige Lösungen. Kurz- bis mittelfristig müssen die reichen Länder dieser Welt ein Gleichgewicht zwischen sozialen Verwerfungen durch zu viel Immigration und humanitären Katastrophen durch Abschottung finden. Keine Lösungsoption erscheint sonderlich attraktiv.
Obwohl die Grundidee, auf der Ökonomik basiert, die ist, dass man zwischen verschiedenen knappen Gütern abwägen muss und de facto nie alles haben kann, was man haben möchte, sind die Ökonomen darin besonders gut, vermeintliche win-win-Situationen zu identifizieren (manche nennen dies die „orthogonale Positionierung“), so beispielsweise die Behauptungen, Flüchtlingsströme seien toll, denn wir haben ja einen demografisch bedingten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Das ist eine Verklärung der Problematik, die viele Probleme ausblendet (nicht alle Flüchtlinge sind qualifiziert, es sind mehr, als die Wirtschaft optimalerweise bräuchte, brain drain ist keine langfristige Lösung…). Aus psychologischer Sicht ist die Weigerung, trade-offs als solche anzuerkennen, verständlich, denn so lassen sich kognitive Dissonanzen kurzfristig vermeiden. Nur leider schafft man mit so einer Selbstverblendung mittel- bis langfristig neue Probleme, wenn klar wird, dass die vermeintlichen win-win-Situation doch gar nicht so allseits vorteilhaft sind.
Mir persönlich geht es oft ein bisschen wie dem eingangs erwähnten Hexer Geralt – am liebsten würde ich mich irgendwo in dem vergleichsweise ruhigen, wohlhabenden Deutschland verkriechen, nichts mehr von den Problemen der Welt hören, weil es nervenaufreibend ist, keine wirklich guten Lösungen zu erkennen. Aber ein „Rückzug ins Private“ ist leider(?) keine Option – erstens aus moralischen Gründen, zweitens, weil die Realität die unangenehme Tendenz hat, uns früher oder später einzuholen. Es gilt, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass das kleinere Übel oft das beste ist, was man realistischerweise haben kann. Und die großen Übel beseitigen, die sich beseitigen lassen.