Ich verbrachte mehr als die Hälfte meines bisherigen Lebens jenseits der Oder-Neiße-Grenze. In dem Land, in dem gerade eine Sichwahl zwischen Konservativ und Sehr Konservativ stattfand, aus der der neue Präsident Andrzej Duda hervorging. Da ich mit meiner tendentiell negativen Einstellung zu meiner „Heimat“ oft auf Verwunderung stoße und Schwierigkeiten habe, sie spontan zu begründen, nehme ich die Präsidentschaftswahl zum Anlass, mich mit dem Thema in Ruhe zu beschäftigen.
Ich mag Polen nicht. Ich fühle mich fremd dort und habe inzwischen nichts, was man als „polnische Identität“ bezeichnen könnte jenseits der Tatsache, dass ich dort einst lebte und ein Großteil meiner Familie immer noch dort sein Dasein fristet. Wobei ich an dieser Stelle vielleicht anmerken sollte, dass ich mich ebenfalls nicht für einen Deutschen halte – ich kann mit dem abstrakten Konstrukt nationaler Identität generell wenig anfangen, Staatsbürgerschaft hin oder her. Gleichwohl fühle ich mich hierzulande wesentlich wohler.
Warum ist meine Einstellung zu Polen so negativ? Was führte dazu, dass ich kaum noch polnische Medien verfolge und von der Süddeutschen Zeitung an die Wahlen in meiner sogenannten „Heimat“ erinnert werden muss? Die Antwort ist eine komplexe Geschichte. Die aktuelle Präsidentschaftswahl bietet einen guten Anhaltspunkt, um mit den Begründungen zu starten.
Normalerweise finden Wahlen in Polen im Herbst statt. Dass die aktuelle bereits im Mai abgehalten wurde, liegt an einem Ereignis, das die gesellschaftliche Stimmung der letzten Jahre prägte und einige Defizite der „polnischen Mentalität“ besonders deutlich zutage brachte. Im April 2010 stürzte bei Smolensk (Russland) ein Flugzeug ab, mit dem u. a. der damalige polnische Präsident Lech Kaczyński zu einer Gedenkfeier im ukrainischen Katyn reiste. Alle Passagiere starben. Im Mai wurde Bronisław Komorowski zum neuen Präsidenten gewählt, dessen Partei PO bereits seit 2007 die Regierung gestellt hatte. Der Bruder des verstorbenen Präsidenten, Jarosław, weigerte sich anschließend, den neuen Präsidenten anzuerkennen. Eine Zeit voller absurder Anschuldigungen, Verschwörungstheorien und Hasses brach an – unzählige Untersuchungskommissionen, Dokumentarfilme und Publikationen behaupteten, der Flugzeugabsturz wäre kein Unfall gewesen, sondern ein Anschlag, verübt von der Regierung mit Unterstützung Russlands. Das politische Klima im post-1989-Polen war nie besonders freundlich gewesen, aber Smolensk gab dem ganzen einen zusätzliche, absurde, ja makabre Dimension.
Mit der aktuellen Wahl kommt ein Kaczyński-Zögling an die Macht. Auch in den für Herbst angesetzten Parlamentswahlen könnte die von den Kaczyńscy gegründete PiS siegen – was nicht zuletzt an der Unfähigkeit der PO liegt, mit der Bevölkerung zu kommunizieren und tatsächliche Probleme effektiv anzugehen.
Der erste Wahlgang der aktuellen Wahl war in vielerlei Hinsicht bezeichnend. Die drei besten Ergebnisse fuhren der sehr konservative Duda (die PiS könnte man mit der CSU vergleichen, bloß bar jeglichen Wirtschaftsliberalismus), der relativ konservative Komorowski (die PO steht ideell der CDU recht nahe) sowie der ultrakonservative, ultrakatholische Sänger Paweł Kukiz, parteilos und nach eigener Darstellung „von außerhalb des Systems“ (eine Nobilitation in meiner sogenannten „Heimat“), ein. Die drei vereinigten mehr als 80% der Stimmen auf sich. Zum Vergleich: die beiden mehr oder minder „linken“ (eher i. S. des gemäßigten Sozialliberalismus) Kandidaten kamen gemeinsam auf 4%. Die Wahlbeteiligung lag im ersten Wahlgang unter, im zweiten leicht über 50% – in einem politischen System, das wesentlich näher an dem französischen Präsidialsystem als an dem deutschen liegt, wo also der Präsident durchaus reelle Macht hat.
Spiegeln diese Ergebnisse das wider, was mich an Polen stört? Direkt vielleicht nicht – schon allein wegen der mittelmäßig repräsentativen Wahlbeteiligung -, indirekt aber durchaus.
Die Polen sind sehr konservativ. Obwohl die Angaben, 90% der Bevölkerung seien katholisch, nicht der eigentlichen religiösen Praxis entsprechen („nur“ ca. 40-50% der Bevölkerung sind praktizierende Katholiken), ist der Einfluss der katholischen Kirche sehr groß und teilweise auch institutionalisiert. So hat der Staat z. B. keinerlei Einfluss auf die Lehre des Pflichtschulfachs Religion – weder bezüglich des Inhalts noch des Lehrpersonals. Und die polnische katholische Kirche ist noch wesentlich verkrusteter als der Vatikan – sie tut sich sehr schwer in ihrem Umgang mit dem aktuellen Papst. Sehr viel Zeit verbringt sie damit, gegen „unnatürliche“ gesellschaftliche Entwicklungen zu wettern.
Gerade in Großstädten wie Breslau, Krakau oder Warschau ist das Bild natürlich differenzierter, „liberaler“. Da stoßen wir jedoch auf das zweite große Problem der Polen – ihre ausgeprägte Unfähigkeit, an einem Strang zu ziehen. Eine Zivilgesellschaft ist praktisch nicht existent. Demonstrationen werden vor allem von ganz spezifischen Gruppen organisiert – von Rechten (gern unter aktiver Beteiligung von Fußball-Hooligans) zur Verteidigung des „katholischen Polens“ mit seinen historischen Mythen (s. unten) gegn das „verkommene“, liberale Europa bzw. gegen das imperialistische Russland, sowie von Interessengruppen, die ihre Privilegien verteidigen – allen voran (ober-)schlesische Bergarbeiter und Landwirte, die seit Jahrzehnten auf Kosten der Gesellschaft ihrem Gruppenegoismus fröhnen können und existentielle Reformen verhindern (wie z. B. die Erneuerung des maroden energetischen Systems). Darin kann man einen weiteren Ausdruck des polnischen Konservatismus sehen – die Verteidigung des Status quo funktioniert, der Kampf gegen das Neue hat durchaus Mobilisierungspotenzial. Hinter Änderungen stellt sich kaum jemand, so notwendig und auch gewünscht sie sein mögen.
Dies hängt auch damit zusammen, dass Polen ein Land der Egoisten ist. „Mir soll es gut gehen, dafür hat die Politik zu sorgen, Kompromisse gehe ich nicht ein. Falls mir eine Regierung nicht passt, stimme ich bei der nächsten Wahl gegen sie – und wenn der Gegenkandidat ein Fanatiker ist!“ (mit Fanatikern ist die polnische politische Szene reichlich gesegnet, aktuelle Beispiele wären da Janusz Korwin-Mikke oder Grzegorz Braun) Oder man wählt eben gar nicht (vide die Wahlbeteiligung), weil es niemanden gibt, den man guten Gewissens wählen könnte – was zugegebenermaßen auch stimmt. Nur leider kommt niemand auf die Idee, selbst die Ärmel hochzukrempeln und mit Anderen eine Alternative aufzubauen, politisch oder zivilgesellschaftlich. Lieber versinkt man in Apathie und Selbstmitleid.
Polen weisen eine besondere Art von Fatalismus auf. Dies spiegelt sich außer politischer Apathie auch in den gepflegten und im Notfall aggressiv verteidigten historischen Mythen wider, die sich bis heute auf die kollektive Selbstwahrnehmung auswirken. Polen sei historisch ein Opfer gewesen, allermeistens das Opfer hegemonialer Interessen der beiden großen Nachbarn Deutschland und Russland. Man denke nur an die Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts, an den Zweiten Weltkrieg oder den Kommunismus. Die glorreichen Momente der polnischen Geschichte sind Momente der Auflehnung – die Schlacht bei Tannenberg 1410, bei der der Deutschritterorden geschlagen wurde; die Schlacht um Wien 1683, bei der der polnische König Sobieski den Habsburgern den Arsch rettete, die sein Land ein Jahrhundert später im Zuge der Teilungen verrieten; die selbstmörderischen Aufstände von 1830, 1861 und 1944 sowie die Initiierung des Falls des Eisernen Vorhangs 1989. Doch was ist z. B. mit der Hilfe des deutschen(!) Kaisers Otto III., dem Polen den Status eines Königreichs verdankte? Was ist mit der Rolle Polens im Nahezu-Zerfall des Russischen Reiches Anfang des 17. Jahrhunderts? Was mit der eigenen Schuld der „Adelsanarchie“ am Zerfall des Staates im Vorfeld der Teilungen? Oder mit der an Völkermord grenzenden Rücksichtslosigkeit gegenüber der zivilen Bevölkerung im Falle des Warschauer Aufstandes 1944? Was ist mit den wiederholten Pogromen an Juden im Verlauf des Zweiten Weltkriegs? Die selbstgerechte, selektive Herangehensweise an die eigenen Geschichte führt auch dazu, dass Deutschland von vielen bis heute als Bedrohung wahrgenommen wird, genauso wie Russland (und zwar schon lange bevor diese Bedrohung im Zuge der Ukraine-Krise an Substanz gewinnen konnte).
Generell betrachtet ist die polnische Gesellschaft recht xenophob. Zwar ist man durchaus gastfreundlich – aber die Gäste sollten eben temporäre Gäste bleiben. Dabei hat Polen interessanterweise den geringsten Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung in der gesamten EU. Angst vor Unbekanntem?
Gleichwohl leidet die polnische Gesellschaft unter einer Krankheit, die ich indirekt bereits angesprochen habe, und deren Ausdruck die polnische Xenophobie ist – den Polen mangelt es laut Umfragen akut an Vertrauen. Gegenüber Fremden genauso wie gegenüber den eigenen Nachbarn. In einer solchen Atmosphäre ständigen Misstrauens, gekoppelt mit dem bereits angesprochenen Fatalismus und Grundegoismus, ist es schwer, eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen. Polen leidet an einer selbst verschuldeten Krankheit, und Heilung ist nicht in Sicht.
In meinem heutigen „antipolnischen Pamphlet“ habe ich sehr viel generalisiert. Natürlich ist es nicht so, dass jeder Pole ein xenophober, fatalistischer, misstrauischer, homophober, egoistischer Katholik ist. Genauso wie nicht jeder Deutscher ein ordnungsverliebter Mitläufer ist. Dennoch wage ich zu behaupten, dass die von mir beschriebenen Eigenschaften in meiner „Heimat“ sehr verbreitet sind – ihre Konzentration ist inzwischen so groß, dass Menschen, die sich eine Gesellschaft wünschen, die diesen Namen verdient, immer häufiger emigrieren oder zumindest mit dem Gedanken spielen, aus diesem Sumpf namens Polen zu flüchten. Und das verstärkt die Problematik natürlich zusätzlich.
Ich selbst habe meine sogenannte „Heimat“ weitgehend aufgegeben. Was dort passiert, interessiert mich inzwischen kaum mehr als Geschehnisse in Frankreich, Ungarn oder Griechenland. Ist das nicht auch Fatalismus? Ich denke nicht. Ich lebe seit über 10 Jahren nicht mehr in Polen und werde aus mannigfaltigen Gründen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr dorthin zurückgehen. Ich kann mich aufregen, aber als Außenstehender habe ich keinen großen Einfluss. Da ich jedoch „historisch“ eine offensichtliche Verbindung zu Polen habe, muss ich die Frage öfters beantworten, warum ich immer so negativ über dieses Land spreche. Das hoffe ich heute halbwegs überzeugend dargelegt zu haben.
Eine Person, deren Meinung mir sehr wichtig ist und die ebenfalls mit ihrem Verhältnis zu Polen hadert, hat mir in einer Mail übertriebene Negativität vorgeworfen. Konkret ging es um die folgenden Punkte, auf die ich hiermit antworten möchte – auch wenn ich immer noch zu meiner Meinung stehe, halte ich es für sinnvoll und wertvoll, gegenteilige Meinungen zu Wort kommen zu lassen:
1. Polen wird im „Westen“ tendentiell positiv dargestellt, was sich mit meiner durchgehend negativen Darstellung beißt.
2. Ich generalisiere sehr stark, wenn ich z. B. schreibe „die Polen sind sehr konservativ“, „Debatten in Polen sind immer…“, „…ähnliche Themen dominieren…“, „Sittenpolitisch steckt Polen immer noch im Mittelalter“. Ich stelle generalisierende Behauptungen auf, ohne dass klar ersichtlich ist, dass sie auch zutreffen.
3. Zusätzlich zu 2. betone ich selbst, dass ich polnische Medien kaum noch verfolge.
4. Ich nenne praktisch nur negative Argumente, keine positiven, um eine balancierte Sicht zu erreichen.
5. Die wiederholte Verwendung der Formulierung „meine sogenannte „Heimat““ klingt recht abwertend.
Auf diese Kritikpunkte möchte ich folgendermaßen antworten:
1. Warum Polen im „Westen“ oft eher positiv dargestellt wird, ist mir tatsächlich schleierhaft (doch spielt es auch durchaus mal eine negative Rolle, insbesondere im Kontext der Klima- und Energie-Politik der EU, das sollte man auch nicht vergessen). Meine Vermutung ist, dass die Betrachtung oft zu oberflächlich ist – immerhin war die letzten 8 Jahre lang eine gemäßigte Regierung an der Macht (vergleicht man dies z. B. mit Ungarn, sieht es super aus), wirtschaftlich lief es ebenfalls ganz gut (obwohl dies nach meinem Wissen nur bedingt zutrifft und schon gar nicht für die Zukunft auch garantiert ist). Die eigentlichen Probleme Polens, um die es mir geht, brodeln unter der Oberfläche und sind eher „innerer“ Natur. Damit sind sie fürs ausländische Publikum generell weniger interessant.
2. Meine Generalisierungen basieren meistens auf den Daten und Beobachtungen, die mir zur Verfügung stehen. Angesichts der Wahlergebnisse und -beteiligung lässt sich wohl kaum leugnen, dass Polen konservativ und/oder apolitisch sind. Die sittenpolitische Lage spiegelt sich darin wider, über welche Themen gerade erst diskutiert werden muss, die im „Westen“ oft mehr oder weniger selbstverständlich sind. Auch meine Bemerkung zu Misstrauen basiert auf den Ergebnissen entsprechender soziologischer Studien. Dies sind die Kernelemente der Probleme, die ich in Polen sehe, und sie scheinen mir belegbar und damit generalisierbar.
3. Ich habe erst vor einem knappen halben Jahr recht abrupt aufgehört, polnische Medien zu verfolgen, und bekomme auf anderen Kanälen einiges mit, ob ich will oder nicht. Ich glaube kaum, dass sich die Situation innerhalb des letzten halben Jahres dramatisch verändert hätte. Immerhin fanden die Wahlen, die eher das Gegenteil nahelegen, erst diesen Monat statt.
4. Mir fällt schlicht und einfach nichts Positives ein. Bei Fragen, die ich nicht explizit angesprochen habe, kann man davon ausgehen, dass sich Polen z. B. von Deutschland einfach nicht unterscheidet. Ich wüsste nichts, was das Land im Positiven ausmachen bzw. herausstellen würde. Zugleich erscheinen mir meine Kernargumente (dass die Polen extrem misstrauisch sind und Angst vor Neuem haben) gewichtig genug, um eine eindeutig negative Diagnose zu rechtfertigen.
5. Die Formulierung „meine sogenannte „Heimat““ sollte zum Ausdruck bringen, dass ich mit Konzepten wie „Heimat“ oder „Nationalität“ nicht viel anfangen kann und nicht wüsste, wieso die 15 Jahre, die ich in Polen gelebt hatte, bedeuten sollten, dass es meine „Heimat“ sei, also etwas tendentiell positiv Konnotiertes und für ein besonderes Verhältnis stehendes. Ich fühle mich Polen als Nation, Land oder was auch immer nicht verbunden, genauso wenig wie ich mich der deutschen Nation oder Deutschland als einem abstrakten Gebilde verbunden fühle. Ich fühle mich Menschen verbunden.
Es mag sein, dass ich mich dennoch irre oder zumindest übertreibe. Das kann ich nicht ausschließen. Und das sollte auch jeder Leser dieses Textes beachten, denn er ist zugegebenermaßen sehr subjektiv und in einer gewissen Weise persönlich.
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Zu Punkt 4: Da bist du schon sehr einseitig. Was die Wenigsten wissen – es gibt sehr schöne polnische Briefmarken. Außerdem hat Polen viele großartige Naturlandschaften. Es ist quasi wie in Bayern – abstrahiere von den Einwohnern, und du siehst so viel Schönes! Wenn unbedingt nötig kann man ja auch Stanislaw Lem oder Chopin bemühen. Außerdem hat Polen, wenn ich mich recht erinnere, deutlich weniger Weltkriege angezettelt als deine Wahlheimat. Das mag allein an den fehlenden Mitteln gelegen haben, wer kann das schon sagen, aber der Fakt bleibt, dass ich mich von all unseren Nachbarstaaten nur von der Schweiz bedroht fühle. Aber solange die Schweizer noch Ehefrauen haben, erschießen die zum Glück erstmal die mit ihren Reservisten-Gewehren.* Gott schütze diese Frauen! Ich glaub ich bin vom Thema abgekommen…
*: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/schweiz-frauen-machen-gegen-waffentradition-mobil-a-440609.html
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So gesehen könnte ich auch noch eine interessante Jazz-Szene und ein paar gute Regisseure hinzufügen… Und was Bedrohung durch Nachbarn anbetrifft, würde ich mich eher vor den Niederländern in Acht nehmen – bei denen ist Homo-Ehe schon längst üblich, und wie man spätestens seit Frau Kramp-Karrenbauer wissen, ist dies nur einen Schritt entfernt von Inzest und Polygamie. Und kiffen tun sie auch noch! Wenn das nicht eine reale Bedrohung ist…
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