Sind die Menschen gut? Oder sind sie böse? Lässt sich der Mensch durch die Förderung des Guten in ihm zum besseren Menschen formen (Marx)? Oder braucht es eines Leviathans, um Anarchie zu vermeiden (Hobbes)? Ist es naiv, auf das Gute im Menschen zu hoffen als Lösung für die Probleme der Welt? Ich vermute, dass ich nicht der einzige bin, der sich diese und ähnliche Fragen dauernd stellt. Doch ich wage heute den Versuch einer Antwort, auch wenn mir klar ist, dass ich nicht in der Lage bin, ihren Wahrheitsgehalt zu belegen.
Es gibt viele Auffassungen darüber, wie der Mensch „eigentlich“ ist. Viele Menschen, auch viele, die ich kenne, glauben an das Gute in einem jeden von uns. Sie schreiben alles oder zumindest das meiste Böse der Prägung durch die soziale Umwelt zu. Diese Interpretation ist denn auch der Ausgangspunkt für wahrscheinlich die meisten Utopien. Der Marxismus kommt mir dabei als erstes in den Sinn. Marx und seinen Aposteln, einschließlich derer, deretwegen er sich wahrscheinlich im Grabe wunddrehte, schwebte ein „neuer Mensch“ vor. Dieser neue Mensch kann nur erreichbar sein unter der Annahme des grundsätzlich Guten in ihm.
Auf der anderen Seite hätten wir Misanthropen und Sozialbiologen, die den Menschen für wahlweise dumm und/oder böswillig und/oder egoistisch halten. Ein klassisches Beispiel für diese Position ist Hobbes mit seinem Ausspruch homo homini lupus est und seiner Behauptung, der Mensch in seinem „Naturzustand“ sei endlos egoistisch, was in Anarchie resultiere. Inzwischen ist zumindest die historische Komponente dieses Arguments fragwürdig – nach dem heutigen Wissensstand waren frühe Menschengemeinschaften nicht mehr Wölfe zueinander als wir es heutzutage sind. Dem ließe sich andererseits entgegnen, das sei bloß das Resultat von im Grunde egoistischen Kalkül – in Gruppen ist man überlebensfähiger. Man kann Altruismus in den meisten seiner Formen durchaus plausibel erklären, ohne auf Egoismus als Grundannahme zu verzichten.
Letztlich kann man auch davon ausgehen, dass in jedem Menschen sowohl Gutes als auch Böses steckt (Yin und Yang). Je nach Umwelteinflüssen tritt die eine oder andere Seite stärker in Erscheinung. Dies kann so interpretiert werden, dass eine „gute“ Gesellschaft möglich ist, sie ist aber nicht unbedingt 100%ig stabil.
Meine eigene Auffassung ist gewissermaßen ein Mix aus allen drei: ich glaube weder, dass Menschen im Grunde gut, nocht dass sie im „Naturzustand“ böse sind, noch dass jeder beides gleichzeitig ist. Vielmehr würde ich davon ausgehen, dass alle drei Optionen vorkommen. Es gibt Menschen, die unabhängig von Umwelteinflüssen böse sind (auch wenn ich glaube, dass diese relativ selten sind). Es gibt solche, die fundamental gut sind (auch das nicht besonders häufig). Und es gibt eine große formbare Masse, bei der man es nie so ganz wissen kann. Das ergibt durch „Aggregation“ eine Art „gesamtgesellschaftliches Yin und Yang“.
Was bedeutet das für die menschliche Gesellschaft? Es bedeutet, dass sie nicht ohne Institutionen auskommt. Gelehrter und praktizierender Ökonom, der ich bin, verstehe ich, im Gegensatz zu normalen Menschen, unter Institutionen die große Menge an formellen und informellen Anreizsystemen, die das Verhalten des Individuums als Teil der Gesellschaft steuern. Diese reichen von sozialen Konventionen über Gesetze oder Steuern bis hin zu Tabus. Auch Organisationsprinzipien wie Märkte oder Privateigentum sind Institutionen.
Nun braucht die Gesellschaft also Institutionen. Solche, die bestimmte als erwünscht geltende1 Verhaltensweisen sanktionieren, wie z.B. Ehrlichkeit, Reziprozität, Solidarität. Welche Institutionen das konkret sein sollen, ist erstmal nicht relevant. Was relevant ist, ist die Tatsache, dass nur eine der Interpretationen der menschlichen Natur die Notwendigkeit von Institutionen in Frage stellt, und das auch nur unter einer recht restriktiven Bedingung: falls die Menschen im Grunde gut sind und falls optimale Umweltbedingungen, die ausschließlich das Gute fördern, erkennbar und herbeiführbar sind, braucht man anschließend keine Insitutionen mehr. Dann ist man nämlich in einem anarchistischen Schlaraffenland angekommen, Friede, Freude, Eierkuchen. Für alle anderen Varianten dürfte mein Plädoyer für Institutionen unkontrovers sein. Kontrovers sind erst die konkreten Institutionen selbst.
Keine großen Kontroversen, kein großer Erkenntnisgewinn… Oder? Eine interessante Schlussfolgerung aus meinen heutigen Ausführungen gibt es aber noch: glaubt man nicht daran, dass alle Menschen im Grunde gut sind (s.o.), ist es schwierig, bezüglich der Lösung unserer vielen Probleme optimistisch zu sein, seien es Kriege, religiöser Fundamentalismus, Klimawandel oder Steuerhinterziehung. Denn wir kommen in eine milde Form infiniten Regresses: um die richtigen Institutionen zu schaffen, brauchen wir richtig „geformte“ bis „gesteuerte“ Menschen, wofür wir wiederum die richtigen Institutionen brauchen etc.
Damit hätte ich meinen Grundpessimismus erklärt, wenn auch auf eine recht umständliche Art und Weise. Dies sollte für heute reichen.
- Was „erwünscht“ ist, zu bestimmen, ist die Aufgabe der Ethik. Da Ethik nicht wirklich die Wahrheit bieten kann, sind auch die von mir genannten Beispiele zu sanktionierender Verhaltensweisen nicht „absolut“ richtig, sondern beziehen sich implizit auf besonders verbreitete und anerkannte ethische Theorien (v.a. Kant und Rawls).↩