Meine ersten beiden Beiträge auf diesem Blog (in seiner deutschsprachigen Version), die beide ursprünglich auf dem Wissenschaftsblog des UFZ veröffentlicht wurden, weisen eine Gemeinsamkeit auf. In beiden brach ich eine Lanze für Konzepte, von denen ich selbst nicht vollends überzeugt bin, die Kritik an welchen ich aber für völlig überzogen halte. Zeit, eine weitere Lanze zu brechen, diesmal für den „ökonomischen Imperialismus“.
Den Begriff „ökonomischer Imperialismus“ verbindet man vor allem mit dem Namen Gary Beckers. Dieser kürzlich verstorbene Vertreter der berühmt-berüchtigten Chicago School of Economics wandte das Modell des ökonomischen Nutzenkalküls i.S. des homo oeconomicus auf Bereiche, die mit dem üblichen Verständnis, was Ökonomie ist, wenig bis nichts gemein haben. So befasste er sich u.a. mit der „ökonomischen“ Analyse der Ehe, der Kindererziehung oder der Drogenabhängigkeit. Andere Ökonomen analysierten auf ähnliche Art und Weise Phänomene wie Korruption, Sklaverei, Rassendiskriminierung oder Selbstmordattentate. In einem viel beachteten Buch The Economic Naturalist erklärt Robert Frank, keineswegs ein „Chicagoer“, alle möglichen alltäglichen Phänomene mithilfe der üblichen ökonomischen Konzepte des Nutzenkalküls, der Opportunitäts- und Transaktionskosten oder des Zusammenspiels zwischen Angebot und Nachfrage.
All diese „Ausflüge“ der Ökonomen in Bereiche jenseits ihres angestammten Feldes (Güter-, Dienstleistungs- und Finanzmärkte) ernteten Kritik. Es sei eine Anmaßung, wie die „ökonomischen Imperialisten“ die traditionellen Untersuchungsgegenstände anderer Disziplinen (Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaft…) vereinnahmen. Vor allem, weil diese „Imperialisten“ dabei auf nur eine Handvoll generell kritisch beäugter Modelle zurückgreifen (allen voran der homo oeconomicus), um so unterschiedliche Phänomene zu betrachten wie Finanzspekulation und Ehe.
Ist diese Kritik berechtigt? Ist ökonomischer Imperialismus zu verdammen? Ich vermute, die Antwort auf diese Fragen ist ein klares „Jein“. Die Kritik des ökonomischen Imperialismus trifft einige wichtige Punkte und zeigt Unzulänglichkeiten der ökonomischen Theorie auf – sie schießt aber gleichzeitig sehr übers Ziel hinaus und konzentriert sich auf den falschen „Feind“. Was sich auch darin zeigt, dass die Auswahl der Kritikobjekte mitunter sehr arbiträr ist.
Ist es sinnvoll, eine Disziplin zu kritisieren, weil sie scheinbar ihr angestammtes Revier verlässt? Nein. In unserem konkreten Fall gibt es mindestens zwei Argumente dagegen. Zum einen ist es keineswegs so, dass der Untersuchungsgegenstand der Ökonomie nur die „Wirtschaft“ (die Aristotel’sche chrematistiké) wäre. Zwar ist dies nicht unumstritten, doch die mit Abstand populärste Definition der Ökonomie stammt von Lionel Robbins, der 1932 schrieb, die Ökonomie sei „a science which studies human behavior as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses.“ Je nach Interpretation kann man diese Definition auf die meisten gesellschaftlichen Phänomene ausdehnen – auch auf solche, die mit Geld und Handel nichts zu tun haben. Hinzu kommt, dass es viele Anwendungen ökonomischer Modelle gibt, die weit weniger Gemüter erregen, als die Arbeit von Gary Becker & Co. dies tat. Als Beispiele könnte man die Ökologische Ökonomie nennen, die Politische Ökonomie und Institutionenökonomik oder die Verwendung spieltheoretischer Konzepte in der Evolutions- und Sozialbiologie. Dies legt nahe, dass es den Kritikern des ökonomischen Imperialismus gar nicht so sehr um die „Ausflüge“ der Ökonomen an sich geht, sondern um die konkrete Anwendung bestimmter Modelle in bestimmten „tabuisierten“ Kontexten. In manchen Fällen scheint auch einfach die disziplinäre Ehre gekränkt, wenn sich Soziologen oder Politikwissenschaftler über den ökonomischen Imperialismus, der ihre eigenen Untersuchungsfelder erobert, beschweren.
Zum anderen könnte man die These wagen, dass die Herkunft eines Modells irrelevant ist – allein seine Qualität zählt (dies ist eine Variation des berühmten Arguments von Milton Friedman in seinem Essay über die Methodology of Positive Economics). Wobei natürlich nicht immer Einigkeit darüber herrscht, was ein „gutes“ Modell ausmacht. Eine extreme Interpretation bot der gerade zitierte Friedman, laut dem ein Modell lediglich gute Voraussagen zu liefern habe – es sei egal, ob seine Annahmen realistisch sind oder nicht. Auch wenn mir Friedman aus vielen Gründen nicht sympathisch ist, würde ich ihm in diesem Punkt zustimmen, allerdings mit der Einschränkung, dass die von ihm geforderte „prädiktive Güte“ nicht das einzige denkbare Kriterium zur Bewertung eines Modells ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die disziplinäre Herkunft des Modells kein legitimes Kriterium darstellt. Die Übernahme von Modellen aus „fremden“ Disziplinen kann sich als durchaus fruchtbar erweisen, zumindest solange dies nicht übertrieben wird (die Idee der Neoklassiker, Ökonomie könnte die exakte „Physik unter den Sozialwissenschaften“ sein, war eine solche Übertreibung). Letztendlich ist dies das Grundprinzip hinter der heutzutage so viel gepriesenen Interdisziplinarität – auch wenn diese viel schwieriger zu erreichen/umzusetzen ist, als viele öffentliche Geldgeber zu glauben scheinen, ist die Grundidee doch sehr begrüßenswert.
Soweit pro ökonomischer Imperialismus.
Nachdem ich eine Lanze für ihn gebrochen habe, möchte ich nun seine Verteidigung etwas revidieren. In vielen Fällen, gerade was Gary Beckers Arbeit anbetrifft, war die Anwendung ökonomischer Modelle nicht wirklich sinnvoll. Bzw. es waren die falschen Modelle – insbesondere der homo oeconomicus. Ich bin zwar inzwischen nicht mehr der Meinung, dass dieses Verhaltensmodell keine Daseinsberechtigung hätte – aber es wird in der Ökonomie mitunter unberechtigterweise verabsolutiert, frei nach dem Motto one size fits all. Es gibt durchaus Bereiche und Fragestellungen, in denen homo oeconomicus „gut genug“ ist, insbesondere weil es den Vorteil hat, ein sehr einfaches Modell zu sein. Doch sollte seine Verwendung bzw. die Verwendung von Modellen grundsätzlich flexibel und auf die konkrete Fragestellung zugeschnitten sein. Kein sozialwissenschaftliches Modell vermag es, alle sozialen Phänomene zu erklären. Dazu sind soziale Systeme viel zu komplex und dynamisch. Dass Gary Becker und Mitstreiter dies mit ihrer flächendeckenden Anwendung des einfachen Modells des Nutzenkalküls übersahen bzw. ignorierten, war das eigentliche Problem des „ökonomischen Imperialismus“, nicht die Tatsache, dass sie die angeblichen Grenzen ihres Metiers überschritten.
Ein anderer Faktor, der zum Imperialismus-Vorwurf wohl beitrug, ist die Zurückhaltung der Ökonomie gegenüber anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (dass dies im VWL-Studium ein großes Problem ist, habe ich hier thematistiert). Während einige Ökonomen recht rücksichtslos in die Forschungsfelder der Soziologen oder Politologen „eindringen“, zeigt sich die Mainstream-Ökonomie gleichzeitig ziemlich immun gegenüber Einsichten aus diesen und anderen Disziplinen. Dies ist insofern schade, als es erstens unser Verständnis der sozialen Welt einschränkt und zweitens wahrscheinlich dazu beiträgt, dass wir Ökonomen zu sehr in unsere eigenen Modelle vertrauen. Vielleicht ist es Zeit, statt den Imperialismus bestimmter Disziplinen zu beklagen, die mitunter recht hermetische disziplinäre Einteilung der Sozialwissenschaften zu überdenken. Letzten Endes befassen wir uns alle – Soziologen, Politologen, Ökonomen, viele Psychologen – mit demselben Forschungsgegenstand, sprich: dem Menschen in seinem sozialen Umfeld.
Ja Modelle sind selektive Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Das ist ihre Stärke und ihre Schwäche. Ökonomische Modelle auf nicht offensichtlich ökonomische Bereiche zu übertragen kann neue Perspektiven auf bekannte Phänomene bringen, so wie dies vor einiger Zeit für die ökologische Ökonomie und den Ökosystemansatz galt. Und diverse ökonomische Modelle werden uns sicherlich noch eignes an interessanten Einsichten bringen.
Aber wie ist es denn anders herum? Ich fände es sehr spannend typisch ökonomische Phänomene (Unternehmen, Märkte, Volkswirtschaften) aus anderen Perspektiven zu betrachten. Also quasi ein ökonomischer Imperialismus verkehrt herum. Wie kann man z.B. Unternehmen aus Perspektiven denken, die jenseits von Konkurrenz, Gewinnmaximierung und Homo oeconomicus funktionieren. Unternehmen, die primär Verantwortung übernehmen für ihre Mitarbeiter und Geschäftspartner. Das ist ein sehr spontaner „train of thought“ aber es musste raus bevor ich mich in die Falle haue…
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Ich glaube, was du dir vorstellst, ist eine andere Art von Modell – nicht Modell im engeren Sinne, d.h., ein Abbild der Wirklichkeit, das dem besseren Verständnis der Letzteren dient, sondern eher im weiteren Sinne, d.h., ein „Prototyp“. Es ist gleichzeitig eine eher normative Perspektive, weil du implizit von einer Vorstellung ausgehst, was „gut“ wäre und überlegst, ob/wie dies umzusetzen wäre. Mir ging es eher um positive Analysen, deren Ziel es ist, die Wirklichkeit wie sie ist zu verstehen. Natürlich schließt sich beides nicht aus.
Wie ich im letzten Absatz bereits angedeutet habe, finde ich es schade, dass die Mainstream-Ökonomie so hermetisch ist und wenig Einflüsse aus anderen Disziplinen zulässt. Am Rande des Mainstreams gibt es natürlich Ausnahmen, Leute, die durchaus Erkenntnisse aus z.B. kognitiver Psychologie, Gerechtigkeitstheorien/Ethik oder Soziologie aufgreifen. Aber diese lassen sich leider nicht so leicht formalisieren, was eine wichtige Voraussetzung für die Beachtung durch den Mainstream ist, sodass sie eher ein Mauerblümchendasein fristen.
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