Des Ökonomen perverse Freude an Knappheiten und Zielkonflikten

Es gibt nicht die eine, von allen Beteiligten akzeptierte Definition der Ökonomik. Eine sehr verbreitete und – wie ich finde – treffende stammt von Lionel Robbins und besagt:

Economics is the science which studies human behaviour as a relation between ends and scarce means which have alternative uses.

Es geht also um den menschlichen Umgang mit Knappheiten und Zielkonflikten; diese sind sozusagen des Ökonomen (und der Ökonomin) „täglich Brot“. Kein Wunder, dass man mit der Zeit die Tendenz entwickelt, überall Knappheiten und Zielkonflikte zu sehen.

Dies ist an sich kein ungewöhnliches Phänomen – wenn jemand sich viel mit einem Thema beschäftigt (und dieses Thema die eigene „Daseinsberechtigung“ ist, wie im Falle von Knappheit und Ökonomik), tendiert diese Person dazu, es überall zu erkennen. Auch dort, wo ein impartial spectator, ein unbeteiligter Betrachter, es vielleicht nicht sehen würde. So werden Umweltschutz-NGOs oft dafür kritisiert, dass sie überall Umweltkrisen und -probleme sehen – denn ohne deren Existenz wären sie selbst überflüssig. Eine Variation dessen ist das Erkennen von Externalitäten überall um uns herum:

(Nota bene: Karl William Kapp würde Jan Schnellenbach wohl widersprechen; aber das ist ein Thema für einen anderen Beitrag.) Und so fällt es mir als Ökonomen (und vielen meiner Fachkolleg*innen) schwer, Geschichten über vermeintliche „win–wins“ zu akzeptieren, denn, so eine verbreitete ökonomische Redewendung, „there is no such thing as a free lunch“. Knappheiten und Zielkonflikte sind allgegenwärtig, alles Leben ist Abwägen, selbst wenn Matthias Horx und andere Prediger*innen des Cornucopia Anderweitiges behaupten. (Gleichwohl kenne ich mindestens einen Ökonomen, der seine Karriere auf dem Wegdefinieren von Zielkonflikten begründet hat, mithilfe des Konstrukts der sog. „orthogonalen Positionierung“.)

Auch ich bin also von dieser „Krankheit“ betroffen. So haben Marije Schaafsma und ich vor einer Weile einen Enzyklopädie-Eintrag zum Thema Synergies and Trade-Offs Between Ecosystem Services geschrieben; unser konzeptioneller Ausgangspunkt war dabei: wer von Synergien und win–wins im Kontext des Umweltschutzes spricht, der übersieht/ignoriert meistens eine oder mehrere relevante Dimensionen (z. B. Armut), deren Einbeziehen die vermeintliche Synergie doch als einen Zielkonflikt entlarven. Und kürzlich erst habe ich mir Sorgen gemacht, weil mir die Arbeit meiner Kolleg*innen aus der Bodenkunde zu sehr nach synergistischen Beziehungen zwischen verschiedenen Bodenfunktionen klang, so z. B. in der ersten der unten eingefügten Grafik, in der es zahlreiche Überlappungen zwischen den Indikatoren für die fünf Bodenfunktionen gibt.

https://www.frontiersin.org/files/Articles/463905/fenvs-07-00164-HTML/image_m/fenvs-07-00164-t001.jpg
Quelle: Vogel et al., 2019: Quantitative Evaluation of Soil Functions: Potential and State, Frontiers in Environmental Science.

Was soll ich als Ökonom groß beitragen, wenn alles in die gleiche Richtung zu zeigen scheint und keine nennenswerten Zielkonflikte erkennbar sind? Umso erleichterter war ich, als ich kürzlich eine – übrigens generell sehr interessante und anregende – Publikation las (s. Grafik unten), in der detailliert auf die doch vorhandenen Zielkonflikte im Kontext der landwirtschaftlichen Bodenbearbeitung eingegangen wurde, die zwar sehr kontextabhängig sind, aber dadurch keineswegs leichter aufzulösen. Es gibt also doch nicht die eine richtige, immer funktionierende Lösung für Bodendegradation. (Zur Klarstellung: dieser scheinbare Konflikt liegt nicht daran, dass einer der beiden Artikel falsch wäre, sondern an meiner inkorrekten/naiven Interpretation des Ersteren der beiden.) Meine Erleichterung ob der doch vorhandenen Zielkonflikte hatte aber durchaus etwas „Perverses“ an sich.

https://www.frontiersin.org/files/Articles/575466/fenvs-08-575466-HTML/image_m/fenvs-08-575466-t002.jpg
Quelle: Schröder et al., 2020: Multi-Functional Land Use Is Not Self-Evident for European Farmers: A Critical Review, Frontiers in Environmental Science.

Ist es nun problematisch, dass (manche) Ökonom*innen sozusagen als „Berufskrankheit“ dazu tendieren, überall Knappheiten und Zielkonflikte zu sehen? (Wodurch sie übrigens gewissermaßen die Bezeichnung ihres Fachs als „dismal science“ rechtfertigen.) Natürlich kann man damit übertreiben, und diese Einstellung kann unter Umständen zu einer übertriebenen Skepsis gegenüber Neuerungen und einer „konservativen“ Status-Quo-Präferenz führen. Andererseits kann eine Sensibilität für Zielkonflikte auch übertrieben optimistische und naive Vorstöße bremsen, wie wir sie in der heutigen Debatte häufig sehen, wo bestimmte Technologien, Politiken oder Ideen als „die Lösung aller Probleme“ vorgeschlagen werden – sei es Bio-Landwirtschaft, grüne Gentechnik, bedingungsloses Grundeinkommen, Kernfusion, Degrowth oder „technischer Fortschritt“. Mit Vorsicht genossene Aufmerksamkeit für (potenzielle oder tatsächliche) Knappheiten und Zielkonflikte kann dann im Sinne eines hope for the best, prepare for the worst fruchtbar gemacht werden.

5 Gedanken zu “Des Ökonomen perverse Freude an Knappheiten und Zielkonflikten

  1. Ja Zielkonflikte (trade-offs sind doch dasselbe oder?) gibt es auch in der Ökologie/Biologie:

    „a change in the morphology, physiology or behavior of an organism that increases its fitness in response to one suit of environmental constraints should have a cost that decreases its fitness under other conditions” (Tilman, 1990, S. 4): https://www.jstor.org/stable/3565355?seq=1#metadata_info_tab_contents

    Für mich ist gerade die Frage, ob sich trade-offs innerhalb einzelner Kulturpflanzenarten dadurch umgehen lassen, dass man mehrere Kulturpflanzenarten kombiniert (Mischkulturen), z.B. Ertrag und Proteingehalt

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  2. Ist das Problem vielleicht das Zielbündel? Ich muss ja nicht wirklich auf Teufel komm raus einen Zielkonflikt zwischen A und B suchen. Vielleicht ist da ja keiner. Dann kann ich auch auf die Idee der orthogonalen Positionierung kommen. Aber nur weil es Ziele A und B gibt, die harmonisch sind, heißt das doch nicht, dass es kein Ziel C gibt, das konkurrierend mit A und B (oder beiden) ist. Und – das ist vielleicht die “perverse Freude” des Ökonomen: Wir glauben, dass es immer ein Ziel C gibt. Also suchen wir nicht den konkurrierenden Aspekt von A und B, sondern das C, das einzubeziehen wir übersehen haben.

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    • Und was die orthogonale Positionierung anbetrifft: diese Betrachtungsweise verkennt eben oft die Relevanz von C. Abgesehen davon, dass auch hinsichtlich A und B oft mitunter win-win-Potenziale unterstellt werden, die nicht unbedingt überzeugend sind.

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