Unter den vielen Themen, mit denen ich mich in meiner bisherigen akademischen Karriere auseinandergesetzt habe, sind deliberative Bewertungsverfahren (Deliberative Monetary Valuation) eines der wichtigsten. Mit der Auseinandersetzung mit diesem Typ von ökonomischen Bewertungsmethoden geht meine Begeisterung für Konzepte deliberativer Demokratie einher. Doch je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto mehr zweifle ich an dem praktischen Potenzial deliberativer Demokratie.
Ich habe nicht Philosophie studiert, sodass mein philosophisches Wissen recht unsystematisch ist und auf recht eigenwilliger Lektürewahl vor allem in den letzten 3–4 Jahren basiert. Das erste Mal mit der Idee deliberativer Demokratie kam ich durch Amartya Sen in Berührung (zunächst in Development as Freedom, aber insbesondere in The Idea of Justice). Sen beruft sich dabei auf John Stuart Mill und dessen Idee der Demokratie als „government by discussion“, die weniger auf bestimmte mit modernen Demokratien in Verbindung gebrachte Institutionen abzielt (wie allgemeine Wahlen, Parteien etc.), sondern vielmehr auf die prozedurale, diskursive Natur der öffentlichen Meinungsbildung. Später las ich für meine Dissertation weitere Werke aus diesem Bereich, u. a. von Jon Elster, John Rawls oder John Dryzek, die mein Verständnis von und meine Begeisterung für die Idee deliberativ erzielter kollektiver Rationalität steigerten. In den letzten zwei Jahren rang ich mich dann endlich dazu durch, den Klassiker moderner Theorie deliberativer Demokratie zu lesen – Jürgen Habermas (Theorie kommunikativen Handelns und Faktizität und Geltung). Eine lohnenswerte, wenn auch enorm anspruchsvolle Lektüre.
Doch je länger ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr wich meine ursprüngliche Begeisterung zurück und es kamen Zweifel auf. Denn deliberative Demokratie mit ihrer Idee rationaler Verständigung durch den Austausch von Argumenten (der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“, wie Habermas es nennt) als Grundlage kollektiven Handelns und der Schaffung von (gerechten) gesellschaftlichen Institutionen ist zwar sehr attraktiv – aber in ihren Voraussetzungen auch enorm anspruchsvoll. Das trifft sogar auf die Habermas’sche Variante deliberativer Demokratie, in der davon ausgegangen wird, dass jedes am gesellschaftlichen Diskurs beteiligte Individuum seine eigenen Interessen vertritt. Dahingegen geht die stärker idealisierende Rawls’sche Variante von einem „Schleier des Unwissens“ (veil of ignorance) aus, der dazu führt, dass Individuen in ihrem der Suche nach einer gerechten Gesellschaft dienenden Diskurs gar nicht wissen, was ihre Interessen sind, beziehungsweise von diesen abstrahieren. Selbst die „realistischere“ Variante von Habermas und Anderen setzt allerdings vieles voraus: am Diskurs sollten alle Betroffenen teilnehmen oder zumindest vertreten werden; die Diskussion sollte frei von äußeren Zwängen wie bspw. Zeit sein; es sollte Gleichheit nicht nur hinsichtlich der Behandlung (wie bspw. Redezeit), sondern auch der argumentativen Fähigkeit und intellektuellen Kapazität herrschen.
Eine wahrlich deliberative Demokratie, d. h. eine, in der deliberative Institutionen der Entscheidungsfindung dienen (Prototypen solcher Institutionen sind die zahlreichen deliberative minipublics, die weltweit erprobt werden), ist zwar ein schönes Ideal – aber wohl kaum umsetzbar. In seinem Artikel Democracy without participation argumentiert Phil Parvin daher auch auf eindrucksvolle Art und Weise, dass
empirical evidence gathered over the past half-century strongly suggests that many citizens do not have a meaningful opportunity to participate in the ways that many democratic theorists require, and do not participate in anything like the numbers that they believe is necessary. […] instead of requiring more of citizens, we should in fact be requiring less of them. Instead of seeking to encourage more citizen participation, we should acknowledge that citizens will probably not participate in the volume, or in the ways, many democratic theorists would like[.]
Vielen Menschen fehlt die Bildung, die intellektuellen Kapazitäten, der Wille und, vielleicht am meisten, die Zeit, sich regelmäßig an partizipativen demokratischen Prozessen zu beteiligen. Diese „immateriellen Güter“, die so essentiell für den Erfolg deliberativer Demokratie sind, sind in der Bevölkerung zudem inhärent ungleich verteilt, sodass ein Diskurs, in dem wirklich nur der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ herrscht, eine Utopie bleiben muss. In unserer schnelllebigen Welt, in der es allenthalben gewichtige Entscheidungen zu treffen gibt, deren Realität immer komplexer wird, kann man von Bürger*innen nicht verlangen, dass sie sich regelmäßig zu diversen Themen informieren, um aktiv und mündig an deliberativen Prozessen teilnehmen zu können. Dafür haben wir einfach nicht die Zeit. Der Tag hat nur 24 Stunden, in denen jede*r arbeiten, sich erholen, mit Familie und Freund*innen Zeit verbringen muss und darf. Aus diesem Grund hat die repräsentative Demokratie, basierend auf dem Gedanken der Arbeitsteilung, ihre grundlegende Daseinsberechtigung.
Dies bedeutet nicht, dass die Ideen deliberativer Demokratie zu verwerfen wären. Auch der emphatische Kritiker des deliberativen Partizipationsideals Parvin sieht für deliberative Institutionen eine ergänzende Rolle vor. Und tatsächlich beschreibt bereits der „Vater“ der modernen deliberativen Demokratie, Jürgen Habermas, in seinem Hauptwerk Faktizität und Geltung seine Vision einer repräsentativen Demokratie, die in einem realistischen Maße den Bedingungen einer deliberativen Demokratie entspricht. Dabei betont er insbesondere die entscheidende Rolle einer starken, aktiven Zivilgesellschaft sowie der Medien als Bedingungen einer funktionierenden Demokratie. Ausgehend von der Einsicht, dass die Ideale deliberativer Demokratie aus den oben genannten Gründen – Limitationen, denen Menschen inhärent unterworfen sind – wohl nicht umfassend umsetzbar sind, geht es also nicht darum, Deliberation zu verwerfen, sondern darum, ihr praktisches Potenzial realistisch einzuschätzen. Deliberative Institutionen (z. B. die oben erwähnten minipublics) können beispielsweise helfen, besonders gewichtige Entscheidungen zu treffen.
Und doch, wenn er sich die aktuelle politische Situation anschaut – die Erfolge von Trump, AfD, Bolsonaro oder PiS –, fragt sich der misanthropische Humanist immer wieder: ist Demokratie wirklich eine gute Idee? Wenn viele Menschen anscheinend (oder doch eher scheinbar?) so zynisch, dumm, kurzsichtig sind, und Menschen oder Parteien wählen, die offen gegen andere Bevölkerungsgruppen hetzen und oft auch ihren Wähler*innen unterm Strich aktiv schaden, die sie trotzdem wählen, im autodestruktiven „Protest gegen das Establishment“? Wäre eine andere Regierungsform nicht besser? Statt mehr Demokratie durch Deliberation also vielleicht eher weniger Demokratie? Eine Regierungsform, die der Fehlbarkeit des durchschnittlichen Menschen gerechter wäre? Tatsächlich ist Demokratie angesichts der nicht-idealen Realität einschließlich medialer Manipulation, Ungleichverteilung von ökonomischer Macht (und daraus resultierendem Einfluss) und menschlicher Limitationen oft ein Problem, wenn beispielsweise demokratische Prozesse in Ergebnisse münden, die chauvinistische, nativistische, rassistische Zwecke stärken. Doch so abgedroschen das Zitat inzwischen ist, hatte Winston Churchill wohl doch recht, als er vor mehr als 70 Jahren sagte:
No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.
Und eine Demokratie, die in einem realistischen Maße deliberative Elemente einflicht, deren Basis eine aktive öffentliche Debatte ist, ist vermutlich das Beste, was uns zur Verfügung steht. Und das gilt gerade angesichts der Fehlbarkeit der Menschen – denn wenn der durchschnittliche Mensch fehlbar ist, ist es keine zielführende Lösung, die Macht in die Hände von kleineren Gruppen zu legen. Der misanthropische Humanist ist also ein verhaltener Anhänger repräsentativ–deliberativer Demokratie á la Habermas (Faktizität und Geltung) und Parvin.