Der Mainstream-Ökonomik wird einiges angehängt – von Imperialismus bis zu Wachstumsfetischismus. In Deutschland streiten seit einigen Jahren das Netzwerk Plurale Ökonomik und der Verein für Socialpolitik darüber, welche dieser Vorwürfe inwiefern berechtigt sind. Ein „klassischer“ Zankapfel ist die vermeintliche Obsession der neoklassischen (also: Mainstream-)Ökonomik1 mit (allokativer) Effizienz – den Kritiker*innen zufolge vor allem zulasten distributiver (d. h. Verteilungs-)Fragen. Ich möchte mich einer etwas anderen Frage widmen, die ebenfalls mit der Effizienz-Fokussierung zusammenhängt: ist die (Mainstream-)Ökonomik demokratiefeindlich?
Warum sollte die Ökonomik demokratiefeindlich sein? Viele ihrer wichtigsten Vertreter hielten sich doch für Verteidiger der liberalen Demokratie – man denke insbesondere an Friedrich August von Hayek. Oft wird eine der Grundannahmen der Ökonomik, die Konsumentensourveränität (die Präferenzen der Konsumentin sind nicht zu hinterfragen bzw. „die Konsumentin weiß am besten, was für sie gut ist“), als Beweis ihrer besonderen Liberalität angeführt. Auch verschiedene Versuche, ordinale soziale Wohlfahrtsfunktionen zu konstruieren, also solche, bei denen die Präferenzen eines jeden Individuums gleich viel zählen, kann man als „demokratisch“ interpretieren (unglücklicherweise zeigte Kenneth Arrow 1951, dass eine solche soziale Wohlfahrtsfunktion nicht existiert). Natürlich sind das nur Indikationen – aber da die Mainstream-Ökonomik sich mit der Verfolgung von Zielen angesichts knapper Ressourcen (Definition nach Lionel Robbins) befasst, sollte man von ihr nicht unbedingt eine explizite Demokratie-Theorie erwarten.
Woher rührt dann meine Hypothese, die Ökonomik sei demokratiefeindlich? Sie rührt aus der bereits erwähnten Fokussierung von Ökonom*innen auf Effizienz. Natürlich ist Effizienz an sich nichts „Falsches“ – sogar im Kontext der Demokratie-Theorie kann dieses Konzept sehr aufschlussreich sein, wie ich im Weiteren zeigen werde. Und ich möchte auch nicht sagen, dass die ökonomische Theorie demokratiefeindlich sei – das wäre nach meinem Verständnis übertrieben. Doch wenn man eine Ökonomin ist und daran gewöhnt, primär in Effizienz-Kategorien zu denken, kann es im Kontext der Politikberatung oft zu einer gewissen Ungeduld gegenüber demokratischen Prozessen kommen, insbesondere angesichts der vermeintlichen Irrationalität (im Sinne von Abweichungen vom Homo-oeconomicus-Modell) der Beteiligten.
So wird dem diesjährigen Träger des Nobel-Gedenkpreises für Wirtschaftswissenschaften, Richard Thaler, mitunter vorgeworfen, dass seine Politikempfehlungen (einschließlich seines berühmten Konzepts des Nudging) die Prämisse implizieren, dass Menschen zu mehr „ökonomischer Rationalität“ zu erziehen seien. Nun wurde Thaler natürlich gerade für eine Abweichung von der neoklassischen Ökonomik ausgezeichnet – der Nudging-Ansatz basiert auf Erkenntnissen der kognitiven Psychologie und später der Verhaltensökonomik, die zeigen, dass der Mensch mitnichten ein Homo oeconomicus ist, nicht einmal ansatzweise. Doch der Schluss, den Thaler – so die Kritiker*innen – daraus zu ziehen scheint, ist ganz „neoklassisch“, nämlich dass man mehr Rationalität im Menschen „anregen“ sollte. Im Zweifel durch subtile Manipulation. Daher auch die paternalistischen Züge des Nudging-Konzeptes.2
Ein anderes Beispiel für die Ungeduld von Ökonom*innen mit demokratischen, „irrationalen“ Entscheidungsprozessen ist die Verwendung von Kosten-Nutzen-Analysen zur Entscheidungsfindung (und nicht nur –unterstützung). Es ist eine alte Debatte, wie die Ergebnisse einer Kosten-Nutzen-Analyse zu verwenden sind. Einerseits kann man bspw. in Wohlfahrtsökonomik-Lehrbüchern die Behauptung finden, ökonomische Bewertung und daher auch die Kosten-Nutzen-Analyse seien im Grunde nicht normativ, sondern spiegelten lediglich die extanten Präferenzen der Beteiligten. Andererseits gibt es ernstzunehmende Publikationen, die das Gegenteil behaupten (bspw. dieser Artikel, dieses oder jenes Buch); denn die Kosten-Nutzen-Analyse ignoriert in der Regel Verteilungsfragen (unter dem Deckmantel des Kaldor-Hicks-Kriteriums), sie bezieht nur bestimmte Typen von Werten auf eine ganz bestimmte Weise ein – und das auch nur im besten Fall, in dem alle relevanten Wirkungen und Präferenzen überhaupt betrachtet werden. Wenn die Kosten-Nutzen-Analyse aber normative Entscheidungen seitens des Durchführenden impliziert, kann sie nicht als Werkzeug der direkten Entscheidungsfindung dienen, sondern höchstens zur Entscheidungsunterstützung. Da stellt sich den Ökonom*innen dann aber schon die Frage: wozu habe ich das dann gemacht? Unter Anwendung der besten, aufwendigen und ressourcenintensiven Methoden habe ich nur ermittelt, was sowieso gleich wieder zur Debatte stehen soll…
Doch das Grundproblem liegt woanders und ist schwieriger an konkreten Methoden oder Ansätzen festzumachen. Meine Hypothese ist (gespeist aus einer nicht-repräsentativen Stichprobe von anekdotischen Beobachtungen): viele Mainstream-Ökonom*innen haben eine latente Tendenz zur Technokratie. Weil demokratische Prozesse so enorm ineffizient sein können. Sie kosten viel Geld und viel Zeit; so richtig mag keiner beteiligt sein; Entscheidungsfindung ist oft schwierig, gerade wenn man versucht, viele verschiedene entscheidungsrelevante Faktoren einfließen zu lassen und gegeneinander abzuwägen (von denen sich nur manche in einer Kosten-Nutzen-Analyse adäquat abbilden ließen). Dabei wissen wir ja in der Regel schon vorher, was die effiziente Lösung wäre (oder?). Und wenn eine typische Ökonomin etwas nicht ausstehen kann, dann ist es – Verschwendung. Denn Ressourcen sind knapp, Ziele gibt es viele – wozu also debattieren, wenn eine gute Lösung bereits angeboten wurde? Vielleicht „überspringen“ wir also den partizipativen/demokratischen Teil und treffen einfach die Entscheidung?
So überzeichnet dieses gerade skizzierte Bild ist, so problematisch kann es sein, wenn eine solche Denkweise tatsächlich vorhanden ist. In einem solchen Fall kann man tatsächlich von einer gewissen Demokratieskepsis sprechen, wenn nicht unbedingt von Demokratiefeindlichkeit.
Doch gibt es auch eine zweite Seite. Die „ökonomische“, effizienz-orientierte Brille kann tatsächlich helfen, die Grenzen bestimmter Demokratie-Ansätze zu erkennen. Ein prominentes Beispiel sind deliberative und partizipative Demokratieverständnisse. Auch wenn ihre gegenseitige Kompatibilität mitunter bestritten wird, kann man sie im weitesten Sinne als verwandt betrachten. Partizipative Demokratie betont Beteiligung in allen möglichen Formen – durch Petitionen, Bürgerforen und -initiativen, Demonstrationen, Referenda, partizipative Budgetplanung etc. Im Gegensatz zum üblichen Modell der repräsentativen Demokratie fordert partizipative Demokratie Beteiligung aller Bürger*innen auch jenseits institutionalisierter Kontexte wie Wahlen. Deliberative Demokratie geht einen Schritt weiter und betont mit Jürgen Habermas, John Rawls und Anderen die Notwendigkeit von Debatten, ergebnisoffenen Diskussionen möglichst aller Betroffenen als Kernelement demokratischer Entscheidungsfindung („government by discussion“). Das oft übersehene Problem beider Ansätze ist die absolute Knappheit einer entscheidenden Ressource – Zeit. Wenn die vielen Vorschläge der Theoretiker*innen und Praktiker*innen der partizipativen und deliberativen Demokratie umgesetzt würden, bräuchte eine durchschnittliche Bürgerin mehr Zeit pro Tag als die Rotationsgeschwindigkeit der Erde hergibt. So wichtig Partizipation und Deliberation also sind, es bedarf einer grundökonomischen Tätigkeit – Abwägung im Sinne der effizienten Verwendung der individuellen Ressource Zeit. Und das bedeutet, dass man hier und da die Entscheidungen „abgeben“ muss, z. B. an gwwählte Repräsentanten – auf die Gefahr eines gewissen Grads an Technokratie hin.
Ist die moderne Mainstream-Ökonomik nun demokratiefeindlich? Nein, nicht wirklich. Sind Mainstream-Ökonom*innen demokratiefeindlich? Auch dies eher nein; doch der ausgeprägte Fokus auf Effizienz kann bei ihnen zu einer gewissen Skepsis gegenüber demokratischen Entscheidungsprozessen führen, die sich dann wiederum in Politikberatung niederschlagen kann (s. Nudging und Kosten-Nutzen-Analyse). Andererseits kann die Effizienz-Brille auch helfen, übermäßig idealistische und naive Ansätze in der Demokratie-Theorie auf ihre Grenzen hinzuweisen. Und das kann im Endeffekt gut für die Demokratie sein – weil sie dann nicht mit zu hohen Erwartungen belegt wird.
Fußnoten
- Ein weiterer der vielen Streitpunkte ist: ist es gerechtfertigt, die moderne Mainstream-Ökonomik als „neoklassisch“ zu bezeichnen? Unter Verweis auf die vielen Fortschritte gegenüber der historischen Neoklassik (die Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts u. a. von Alfred Marshall, Léon Walras, Carl Menger, Jean-Baptiste Say, Arthur Cecil Pigou oder William Stanley Jevons entwickelt wurde) lehnen viele Mainstream-Ökonom*innen diese Bezeichnung ab. Doch im Hinblick auf die ideengeschichtliche Kontinuität und die Stabilität der Grundannahmen erscheint es durchaus berechtigt, die moderne Ökonomik des Mainstreams als „neoklassische Ökonomik“ zu bezeichnen. Was nicht darüber hinweg täuschen sollte, dass viele Kritiker*innen den Fehler begehen, heutige Mainstream-Ökonomik mit der historischen Neoklassik gleichzusetzen, was ca. 100 Jahre theoretischer Verfeinerungen und teilweise auch Öffnungen unterschlägt.
- Man sollte dazu sagen, dass es Vorschläge gibt, als „echte“ Nudges nur solche Interventionen zu begreifen, die auch dann ihre Wirkung entfalten, wenn die von ihnen Betroffenen wissen, dass sie genudgt werden. Dieser Ansatz würde den Paternalismus-Vorwurf definitiv entschärfen oder gar entkräften. Die praktische Relevanz einer so engen Nudge-Definition ist allerdings fraglich.