Hat das menschliche Leben einen Preis?

Ja. Rund 9 Millionen USD. Das ist jedenfalls der vom US-amerikanischen Department of Transportation offiziell empfohlene und genutzte Schätzwert für den value of a statistical life (VSL), den ökonomischen Wert eines statistischen Lebens. Über den Sinn und Unsinn dieses Schätzwertes bzw. des dahinter stehenden Konzepts habe ich bereits einmal geschrieben, damals noch auf Englisch. Heute gibt es eine kurze Zusammenfassung mit ein paar neuen Gedanken.

Zunächst einmal: wie geht das überhaupt? Wie ermittelt man den „ökonomischen Wert eines statistischen Lebens“? Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten: die eine, weniger verbreitete, besteht in der Anwendung der sog. Methoden geäußerter Präferenzen – bei diesen fragebogenbasierten Bewertungsmethoden werden Menschen mehr oder weniger direkt nach ihrer Zahlungsbereitschaft für eine marginale Veränderung in der Wahrscheinlichkeit zu sterben gefragt („Was wären Sie bereit zu zahlen, um die Wahrscheinlichkeit, dass Sie innerhalb des nächsten Jahres einen tödlichen Unfall am Arbeitsplatz erleiden, um 1% zu reduzieren?“). Sonst sehr potent, gerade im umweltökonomischen Kontext, erweist sich dieser Methodentyp bei der Ermittlung von VSL aus offenkundigen Gründen als eher problematisch. Daher greift man üblicherweise zu indirekteren Methoden, konkret zu der sog. hedonic-wage-Methode. Die Idee ist, dass es viele Gründe gibt, warum Menschen sich für oder gegen einen Job entscheiden – darunter der positive Faktor „Lohn“ und der negative Faktor „Wahrscheinlichkeit, am Arbeitsplatz einen tödlichen Unfall zu haben“. Diese beiden und möglichst viele weitere Einflussfaktoren packt man also in ein statistisches Modell, mithilfe dessen man dann den VSL indirekt ermitteln kann. Alternativ (aber von der Idee her äquivalent) könnte man sich die durch Anschaffungen offenbarte Zahlungsbereitschaft für Maßnahmen ansehen, die das Risiko mindern, einen tödlichen Unfall zu erleiden: Fahrradhelme, gepanzerte Autos, kugelsichere Westen etc.

Welche Methode man auch immer verwendet, das Ergebnis ist dann üblicherweise die Zahlungsbereitschaft für eine marginale Änderung der Sterbewahrscheinlichkeit, sagen wir, um 1%. Diese skaliert man dann hoch auf 100% – und schon hat man einen VSL-Schätzwert. Aktuelle Analysen kommen auf einen Mittelwert von ca. 9 Millionen USD.

Heißt das jetzt, wie Kritiker oft sarkastisch einwerfen, dass ich einen Menschen umbringen darf, wenn ich nur 9 Millionen USD entrichte? Nun, so verlockend eine solche Kritik ist, so falsch ist sie. Denn selbst wenn man den ökonomischen Wert eines statistischen Lebens auf das Leben eines konkreten Individuums beziehen würde (was an sich schon sehr problematisch ist) – die zugrundeliegende Zahlungsbereitschaft ist immer für das eigene (Über-)Leben. Einem Toten kann man schlecht 9 Millionen USD überweisen. Doch auch wenn wir annehmen, dass die betreffende umzubringende Person das Geld im Voraus ausgezahlt bekommt und es vorher in Ruhe ausgeben darf – eine Übertragung der VSL auf Individuen widerspricht immer noch den Grundsätzen der ökonomischen Wohlfahrtstheorie, auf der ökonomische Bewertung basiert. Zum einen gibt es da die Kategorie der essentiellen Güter, d. h. solcher, ohne die die betreffende Person nicht überleben kann – und die somit per se nicht bewertbar sind. Das eigene Leben ist ein essentielles Gut par excellence. Zum anderen kann man nur marginale Änderungen sinnvoll ökonomisch bewerten. Denn die ökonomische Bewertung bzw. generell die neoklassische Werttheorie basiert auf der Idee von trade-offs, von Abwägungen: der Preis drückt eine Abwägung aus, zwischen einem Gut und allen anderen Gütern, die man für dasselbe Geld erwerben könnte. Auch hier gilt wieder: man kann schlecht sein eigenes Leben gegen andere Güter abwägen. Die Relation stimmt nicht, Geld verliert im „Überlebenskontext“ seine Kraft als Numéraire, als die Einheit, in der trade-offs sinnvoll ausgedrückt werden können (im Ökonomensprech: bei solch nicht-marginalen Änderungen verschieben sich die relativen Preise massiv, sodass es zu enormen und schwer kalkulierbaren Einkommenseffekten kommt). Pragmatisch könnte man ergänzen: zeigt mir jemanden, der freiwillig einen solchen Vertrag – „hier sind 9 Millionen USD, wenn die ausgegeben sind, wirst du umgebracht“ – eingeht. Auf Käufer- wie Verkäuferseite. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen „doppelten Koinzidenz“ geht gegen Null.

Ein schwer von der Hand zu weisendes Argument für die konzeptionelle Sinnhaftigkeit der ökonomischen Bewertung menschlichen Lebens ist letztlich genau das Verhalten, dass sich der hedonic-wage-Ansatz zunutze macht. Wir wägen eben auch mit unseren Überlebenschancen ab. Wenn wir über die Straße gehen, obwohl wir überfahren werden könnten. Wenn wir auf einen Weihnachtsmarkt oder eine Flaniermeile gehen, obwohl wir Opfer eines terroristischen Anschlags werden könnten. Wenn wir aufgrund so banaler Erwägungen wie Ästhetik auf einen Fahrradhelm verzichten – obwohl er unsere Überlebenschancen bei einem Unfall erheblich steigern würde. Wenn wir auf Pisten Ski fahren, von denen wir wissen, dass dort eine nicht vernachlässigbare Gefahr von Lawinen besteht. Und so weiter. Unser eigenes Leben ist uns enorm viel wert (ob es tatsächlich 9 Millionen USD sind, bezweifle ich, aber dazu gleich); doch würden wir ganz offensichtlich nicht alles opfern, um zu leben (wieder Ökonomensprech: unsere Präferenzen fürs eigene Überleben sind nicht lexikographisch). Das hat einen relativ banalen, aber doch fundamentalen Grund: Ein Leben mit 0% Sterbewahrscheinlichkeit wäre wohl kaum lebenswert.

Nichtsdestotrotz ist die empirische Ermittlung von VSL unsinnig. Die Idee ist es nicht – sie ist konsistent und gar nicht so moralisch verwerflich, wie es scheint. Doch in der praktischen Anwendung verliert sie jeglichen Charme. Dafür gibt es zwei Gründe: Durchführbarkeit und Zweckmäßigkeit.

Zur Durchführbarkeit habe ich mich in dem oben verlinkten englischsprachigen Beitrag ausführlich ausgelassen, daher hier nur kurz: auch wenn wir im Bezug auf die eigene Überlebenswahrscheinlichkeit abwägen, tun wir das mitnichten so, wie hedonic-wage-Modelle das annehmen. Wir kalkulieren keine exakten (oder auch nur groben) Wahrscheinlichkeiten, sondern handeln vielmehr nach einem sehr ungenauen und veränderlichen Bauchgefühl; wir sind uns in vielen Fällen der trade-offs gar nicht bewusst; unser Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, selbst expliziten, ist so verschroben, dass sich Kognitionspsychologen schon seit Jahrzehnten darüber austoben können; unsere Entscheidungen, obwohl oft Abwägungen, sind mitunter auch von statistisch schwer erfassbaren Zwängen geleitet; ob sich alle unser (Über-)Leben betreffenden Abwägungen in Geldeinheiten ausdrücken lassen, ist zumindest fragwürdig; und nicht zuletzt sind wir nicht die einzigen, die unser Leben schätzen – doch die VSL-Literatur tut so, als ob unseren Familien und Freunden an unserem Überleben nichts läge (es sei denn, man nimmt an, dass sich das vollständig in unseren individuellen Entscheidungen widerspiegelt – eine gewagte Annahme). Kurzum: VSL-Schätzungen sind und bleiben unglaublich unpräzise. Ich habe hier schon öfters betont, dass die Ergebnisse ökonomischer Bewertung generell nicht gerade Musterbeispiele von Präzision sind – obwohl sie dies vortäuschen, da sie Zahlen mit Nachkommastellen liefern. In diesem Kontext sticht VSL besonders heraus. Im negativen Sinne.

Die Zweckmäßigkeitskritik hängt eng mit der Durchführbarkeitskritik zusammen, kann aber auch ohne Letztere Kraft entfalten. Die Frage ist nämlich: wozu das Ganze? Was für einen Mehrwert hat die Information – selbst wenn sie korrekt und präzise wäre –, dass ein statistisches menschliches Leben den Wert X hat? In einer dystopisch technokratischen Welt, in der alles von Algorithmen und Kosten-Nutzen-Analysen geleitet wird, ohne demokratische oder sonst irgendwie „unpräzise“, „subjektive“ Entscheidungsprozesse – ja, da wäre es vielleicht sinnvoll. Viele öffentliche Investitionen, insbesondere im Sicherheits-, aber auch z. B. im Verkehrsbereich, haben nennenswerten Einfluss auf die Anzahl von Todesfällen; mithilfe von VSL-Schätzungen könnte man dies relativ leicht in Kosten-Nutzen-Analysen einfließen lassen. Doch wir leben (glücklicherweise) nicht in einer Welt, in der alles anhand von Algorithmen und Kosten-Nutzen-Analysen „entschieden“ und gesteuert wird. Für unsere politischen, aber auch unternehmerischen und individuellen Entscheidungsprozesse ist es nicht notwendig, die durch unsere Entscheidungen herbeigeführten Änderungen in der Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sterben, in Geldeinheiten zu übersetzen. Die Angabe „Handlung X würde die Anzahl der Todesfälle um y% reduzieren“ ist klar und eindrucksvoll genug. Da wir menschliche Leben besonders schätzen, ist es vielleicht sogar sinnvoller, sie auf solch explizite Art und Weise in Abwägungen einzubeziehen, statt sie mithilfe von Dollar- oder Euro-Zahlen zu „verstecken“. Und bedenkt man, dass die VSL-Ermittlung wie oben erwähnt enorm unpräzise ist, verliert sie auch die letzte Spur von Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit. Selbst wenn man ihr – wie ich – abstrakte konzeptionelle Sinnhaftigkeit zugesteht.

P.S. Danke an the guy from 305, s.e.p.p. sowie (indirekt) Jonathan Aldred für die Inspiration.

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