Ich hatte heute ein sehr spannendes Gespräch am Abendbrotstisch. Es war kurz und scheinbar trivial, aber es machte mir außergewöhnlich deutlich klar, warum ich Wissenschaft und Ethik faszinierend finde.
Eigentlich waren es zwei Gespräche, obwohl sie irgendwie ineinander übergingen (wie, weiß ich leider nicht mehr). Zuerst ging es um Blinde, die von Geburt an blind sind, und darum, dass sie sich vermutlich genauso wenig vorstellen können, wie es ist, zu sehen, wie wir uns (nicht) vorstellen können, wie es wäre, Strahlung jenseits des Spektrums des sichtbaren Lichts wahrzunehmen. Und da haben wir uns gefragt, wieso Menschen eigentlich Infrarotstrahlung nicht wahrnehmen können (zumindest wenn wir keine Nachtsichtgeräte zur Hand haben). Die eine (vermutlich plausiblere, da nicht von mir stammende) Erklärung war, dass dies offensichtlich aufgrund uns unbekannter physikalischer Schwierigkeiten keinen evolutionären Netto-Vorteil bietet. Zwar scheinen die Vorteile von Infrarotwahrnehmung recht deutlich (man „sähe“ andere Lebewesen – Beute oder potentielle Bedrohung – aus größerer Entfernung), aber die Tatsache, dass sich entsprechende Mutationen (die es per Gesetz der großen Zahlen in unserer langen Entwicklungsgeschichte gegeben haben müsste) offensichtlich nicht durchgesetzt haben, spricht dafür, dass der Netto-Effekt doch eher negativ sein muss. Die andere, naive(?) Erklärung war: Zufall. Eine entsprechende Mutation, Gesetz der großen Zahlen hin oder her, kam nicht häufig genug/zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort vor. Das spannende daran: welche Interpretation (Hypothese) stimmt, lässt sich nur bedingt überprüfen. Und dabei geht es um eine eher banale Frage. Doch sie teilt sich mit allen wissenschaftlichen Fragestellungen eine Eigenschaft, die Wissenschaft zumindest für mich faszinierend macht: wir können die Antwort nie mit absoluter Sicherheit kennen. Selbst wenn man von ontologisch-metaphysischen Fragen absieht (können wir überhaupt zur „Wirklichkeit“, zu den „eigentlichen Dingen“ durchdringen?), wird unser Wissen über die Welt immer beschränkt bleiben. Ja, es wird immer umfassender und komplexer (die zweite Komponente, die Wissenschaft faszinierend macht – wie viel akkumuliertes Wissen steckt hinter so banal erscheinenden Sachen wie z. B. die Feststellung, wie warm es vor 100.000 Jahren war und welche Zusammensetzung die Atmosphäre damals hatte), aber es bleibt immer fragil, weil wir uns alles auf Grundlage von flüchtigen Indizien erschließen müssen. Wissenschaft hört nie auf, sie hat immer eine Daseinsberechtigung.
Der zweite Teil des Gesprächs war ziemlich kurz – eigentlich war es nur eine kurze Bemerkung, die mir aber offenbarte, was ich an Ethik spannend finde. Es ging um eine neuerlich entwickelte Ebola-Impfung, die in Labortests 100%ige Wirksamkeit aufwies. Es ist zwar extrem unwahrscheinlich, dass diese Quote in praktischer Anwendung aufrechterhalten werden könnte, aber wenn sie es täte, würde dies bedeuten, dass es moralisch verwerflich wäre, weitere Ebola-Impfungen zuzulassen – denn sie könnten unmöglich besser sein, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schlechter. Das ist eine an sich recht triviale Feststellung, sie zeigt aber eine (mich) faszinierende Eigenschaft insbesondere angewandter Ethik – wenn man bestimmte zunächst offensichtlich erscheinende und unserer moralischen Intuition entsprechende Prinzipien konsequent weiterdenkt und auf Fälle anwendet, an die man bei ihrer Formulierung nicht gedacht hat, stellt man des Öfteren fest, dass ihre Konsequenzen überraschend, ja womöglich „unmoralisch“ erscheinen. Und plötzlich wird man vor die Entscheidung gestellt: akzeptiere ich die erkannte „negative“ Konsequenz um der Konsistenz des eigenen ethischen Systems willen? Oder verwerfe ich das Prinzip und suche weiter nach solchen, die meinen moralischen Intuitionen entsprechen? Oder, wie mir gelegentlich geraten wird, gebe ich die Suche nach universal gültigen ethischen Prinzipien auf?
Es war ein erkenntnisreicher Abend.
Irgendwie kann ich deinen Schlussfolgerungen im Fall „Ethik vs. Ebola-Impfung“ nicht folgen. Warum sollten andere Impfungen, die zwar nicht besser (angenommen 100%ige Wirksamkeit der besagten Impfung), sicherlich aber genauso gut (wirksam), eventuell biliger, vielleicht auch mit einem breiteren Einsatzspektrum (ungeahnte Nebenwirkungen?), sein könnten, nicht zugelassen werden? Nur wenn die Wirksamkeit mit 100%iger Sicherheit schlechter wäre, wäre deine Schlussfolgerung plausibel. Aber „wir können die Antwort nie mit absoluter Sicherheit kennen“. Hm, doch ein erkenntnisreicher Abend, oder?
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Die Annahme war, dass alle anderen Impfungen weniger als 100% Wirksamkeit erreichen würden. Denn wenn eine Impfung tatsächlich immer heilen sollte (ich möchte betonen, dass ich dies für einen rein hypothetischen Fall halte) und man von Nebenwirkungen absieht, dann gibt es keinen Grund, überhaupt noch an Alternativmitteln zu forschen. Die einzig mögliche Verbesserung, gerade im Fall einer so tödlichen Krankheit wie Ebola, wäre 100% Wirksamkeit + weniger Nebenwirkungen. Ich muss allerdings gestehen, dass das Beispiel vielleicht etwas weit hergeholt war. Aber ich habe nun mal ein tatsächliches Ereignis (wir haben uns wirklich am selben Abend über diese Sachen unterhalten;-)) als Ausgangspunkt für diesen Beitrag genutzt.
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