Eines Tages kommt Mosche zum Rabbiner und sagt: „Rabbi, hilf mir! Du weißt, ich habe eine große Familie, aber ein kleines Häuschen mit nur einer Stube. Ich weiß nicht mehr, wie ich das aushalten soll! Die Kinder sind laut, die Frau ist laut, es ist eng… Ich werde noch wahnsinnig!“ Der Rabbiner überlegt kurz und sagt: „Mosche, du hast doch eine Ziege. Lass sie aus ihrem Verschlag in euer Haus umziehen. In einer Woche komm noch einmal zu mir.“ Mosche erscheint der Vorschlag absurd, aber er weiß um die Weisheit des Rabbiners, also geht er nach Hause und tut, was ihm gesagt wurde. Eine Woche später kommt er völlig erschöpft und nahe am Nervenzusammenbruch zum Rabbiner: „Rabbi, das war ja schon vorher schlimm, aber mit der Ziege ist es nicht mehr auszuhalten! Die ist noch viel lauter als die Kinder und macht alles kaputt!“ Der Rabbiner antwortet: „Nun, Mosche, geh nach Hause und bring die Ziege zurück in ihren Verschlag.“ Einen Tag später kommt Mosche zum Rabbiner angerannt und ruft bereits von der Türschwelle: „Rabbi, du bist ein Genie! Seit die Ziege weg ist, ist es wieder so unglaublich ruhig und entspannt!“
In meiner Familie wird das Phänomen, das in dem oben zitierten Witz beschrieben wird, schlicht der „Ziegeneffekt“ genannt. Man könnte ihn aber auch hochtrabend als „dynamische Anpassung von Erwartungen“ bezeichnen. Unabhängig von der Nomenklatur hat dieser in der realen Welt recht verbreitete Effekt interessante Folgen für die sog. Glücksforschung, insbesondere Versuche, subjektive Wohlstandsindikatoren zu entwickeln.

Auf der Welle der Kritik am BIP als impliziten Wohlstandsindikator wurden zahlreiche alternative Ansätze zur Messung des menschlichen Wohls (well-being) bzw. der Lebensqualität entwickelt. Einige von ihnen basieren auf der Messung des subjektiven Glücks bzw. der Lebenszufriedenheit (interessanterweise trifft dies auf den so bekannt gewordenen Ansatz des Bruttosozialglücks in Bhutan weniger zu, der seinem Namen zum Trotz konzeptionell näher am „objektiveren“ Capability Approach zu sein scheint) und können zur Glücksforschung gezählt werden, obgleich diese Disziplin wesentlich breiter angelegt ist und viele weitere Forschungsziele umfasst.
Nun kann man einen auf subjektiven Empfindungen basierenden Ansatz zur Messung menschlichen Wohls auf vielfache Art und Weise kritisieren. Allen voran trifft die meiste Kritik am Utilitarismus auch hier zu, wie z. B. die mangelnde Unterscheidung zwischen verschiedenen Quellen des subjektiven Glücks (einschließlich sadistischer und anderer moralisch verwerflicher Motive). Ich möchte mich aber heute auf einen Aspekt beschränken, nämlich den Ziegeneffekt, der in der Glücksforschung eine wesentliche Rolle spielt.
Eine der berühmtesten empirischen Studien, die die Verwendung des BIP als Wohlstandsindikator infrage stellte, wurde zunächst in den 70er Jahren von Richard Easterlin durchgeführt (und in den darauffolgenden Dekaden mehrfach wiederholt). Das wichtigste Resultat der Studie war das sog. Easterlin-Paradoxon: es wurde festgestellt, dass jenseits eines relativ niedrigen Schwellenwertes die Entwicklung der subjektiven Zufriedenheit nicht mehr der Entwicklung des Einkommens folgt. Eine Interpretation von Easterlin selbst ist in ihrem Wesen dem Ziegeneffekt sehr ähnlich: mit wachsendem materiellen Wohlstand steigt auch die „Messlatte“, anhand derer man seinen eigenen Lebensstandard beurteilt. Einen ähnlichen Gedanken liefert das Konzept der positionalen Güter, vorgeschlagen von Fred Hirsch in seinem 1976er Buch Social Limits to Growth: Hirsch argumentierte, dass Menschen ihren Wohlstand nicht absolut wahrnehmen, sondern relativ zu Anderen. Um ein unter Ökonomen sehr beliebtes Bild zu bemühen, wenn der Kuchen wächst, ohne dass sich seine relative Verteilung ändert, hat dies keinen Einfluss auf die Zufriedenheit der Beteiligten.
Dieser Effekt kann aber auch in die andere Richtung wirken. Amartya Sen nennt dies die resignierte Anpassung (resigned adaptation): in ärmeren Ländern kann besonders bei „unterdrückten“ Bevölkerungsgruppen (Frauen, Unberührbare etc.), aber auch im Angesicht mangelnder Bildung beobachtet werden, dass Menschen ihre eigene Situation viel besser bewerten als dies Außenstehende tun, eben weil sie nicht daran glauben, dass es ihnen realistischerweise besser gehen könnte. Es ist eine Art psychologischer Selbstschutzmechanismus.
Was hat all dies mit dem Ziegeneffekt zu tun? Nun, es zeigt, genauso wie der Witz, mit dem ich diesen Beitrag eröffnet habe, dass unsere subjektive Glücksempfindung sehr stark davon abhängt, wo wir die Messlatte, die baseline, ansetzen. Da dies kaum auf eine „objektive“ Weise festgestellt werden kann, sind in diesem Sinne subjektive Wohlstandsindikatoren sehr schwer zu interpretieren und mitunter nicht wesentlich aussagekräftiger als BIP. Dies heißt zwar nicht, dass sie nutzlos sind – ich würde vielmehr mit Amartya Sen argumentieren, dass subjektive Glücksempfindung eine relevante Größe bei der Einschätzung menschlichen Wohls sein muss, aber mitnichten die einzige relevante Größe sein darf.

Alternative Ansätze gibt es viele. Innerhalb der Glücksforschung bzw., allgemeiner, der kognitiven Psychologie kam die Idee auf, dass das Problem darin bestehe, dass man in solchen Studien wie der von Easterlin Menschen fragt, wie sie ihre Lebenszufriedenheit retrospektiv beurteilen. Man lädt sie explizit oder implizit dazu ein, ihr Leben jetzt mit ihrem Leben früher bzw. generell mit einer baseline zu vergleichen. Da die baseline aber beweglich ist, stößt man auf die oben skizzierten Schwierigkeiten. Nun schlugen Daniel Kahneman und andere vor, stattdessen das Glücksempfinden in einem gegebenen Augenblick zu messen, ohne dem Befragten Zeit zu geben, an eine baseline zu denken (diese Idee kommt dem Wunsch Jeremy Benthams, dem „Vater“ des Utilitarismus, erstaunlich nahe, der sich erhoffte, dass man eines Tages „in die Köpfe“ der Menschen schauen könnte, um pleasure und pain direkt zu messen). Es klingt schwer machbar, kognitive Psychologen sind aber kreative Bestien und haben sich tatsächlich Methoden überlegt, mit Hilfe derer man so etwas zumindest ansatzweise schaffen könnte – Interessierte verweise ich an das generell äußerst lesenswerte Buch Schnelles Denken, langsames Denken von Daniel Kahneman bzw., im Falle eines Mangels an Zeit, an diesen Blogbeitrag.
Ein anderer Ansatz, der der Idee subjektiver Glücksmessung eher skeptisch gegenübersteht, ist der eingangs erwähnte Capability Approach (auf Deutsch auch Befähigungsansatz), deren maßgebliche Vordenker Amartya Sen und Martha Nussbaum sind. Bei diesem geht es weniger um Glück und mehr um Freiheit – um die Freiheit, das zu tun, was man gern tun möchte, wobei „Freiheit“ hier etwas weiter verstanden wird als üblicherweise und sich auf die „Fähigkeit“ (capability; daher Befähigungsansatz) bezieht, bestimmte Ziele zu erreichen, indem man über die notwendigen Mittel verfügt. Die im Zentrum stehenden Mittel sind bis zu einem bestimmten Grad objektivierbar, worin sich der Capability Approach von der Glücksforschung unterscheidet. Da es aber letztendlich doch um die Ziele geht, die Menschen verfolgen, und diese meistens mit Glück zusammenhängen, kann man eine Brücke zur Glücksforschung schlagen. Diese untersucht nämlich u. a., womit subjektives Glück denn besonders stark korreliert – und siehe da, es sind genau die Faktoren, auf die auch Sen, Nussbaum & Co. hinweisen, wie z. B. Gesundheit, soziale Kohäsion, (politische) Freiheit, materieller Wohlstand, relative Gleichverteilung von Vermögen, Bildung etc.
Wie vom Ziegeneffekt verdeutlicht, ist für die subjektive Beurteilung der eigenen Lebenslage die angenommene baseline sehr wichtig. Dies schränkt die Aussagekraft von in Umfragen erfragten Einschätzungen der eigenen Lebenszufriedenheit („Glück“) als Wohlstandsindikator stark ein. Dennoch ist subjektives Glück nicht unwichtig, ganz im Gegenteil. Aber es ist eben nur ein Bestandteil menschlichen Wohls, das von vielen weiteren, „objektiveren“ Faktoren abhängt.