Drei Kinder und Gerechtigkeit

Ich lese gerade eines meiner Lieblingsbücher wieder, The Idea of Justice von Amartya Sen. Eine der Hauptbotschaften dieses ungeheuer interessanten Buchs ist, dass man sich mit einer gewissen Art von Pluralität abfinden muss. Es gibt nicht die Antwort auf viele wichtige Fragen – z. B. gibt es nicht die Definition von Gerechtigkeit. Sen illustriert dies an einem sehr schönen, einfachen Beispiel dreier Kinder, die um eine Flöte streiten.

Es gibt drei Kinder: Anne, Bodo und Clara. Sie streiten um eine Flöte, die nur eines von ihnen haben kann (eine orthogonale Positionierung, z. B. dass sie sich die Flöte teilen, ist also aus analytischen Gründen von vornherein ausgeschlossen). Nun hat jedes der Kinder ein Argument vorzuweisen, wieso es dasjenige sein sollte, das die Flöte bekommt:

  • Anne kann als Einzige Flöte spielen. Die anderen beiden Kinder bestätigen das. [das utilitaristische Argument]
  • Bodo ist der Ärmste und hat im Gegensatz zu den anderen beiden kaum Spielzeug. Auch dies wird von den anderen bestätigt. [das egalitaristische bzw. utilitaristische Argument]
  • Clara hat die Flöte selbst und eigenhändig gemacht. Auch diese Faktenlage ist nicht kontrovers. [das liberale Argument]

Wie man sieht, lässt sich zugunsten jedes der drei Kinder ein konsistentes, isoliert betrachtet überzeugendes Argument konstruieren. Wenn man sie aber alle drei gleichzeitig betrachtet, muss man abwägen – und es gibt nicht die objektive Lösung des Problems. Für jede mögliche Entscheidung sprechen gute Gründe.

Die Schlussfolgerung Sens? Es ist nicht sinnvoll, eine Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, wie dies z. B. Hobbes, Rousseau, Kant oder Rawls taten, die eine ideal gerechte Gesellschaft beschreibt. Solche Theorien täuschen über die irreduzible Pluralität möglicher Argumente hinweg. Stattdessen sollte man nach Wegen suchen, „offensichtliche“ Ungerechtigkeiten zu beseitigen, ohne sich notwendigerweise (als Gesellschaft) auf ein Argument für deren Beseitigung festlegen zu müssen.

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