Misanthropischer Humanismus

Kann man gleichzeitig Menschen gegenüber prinzipiell abgeneigt sein und trotzdem humanistische und liberale Positionen vertreten? Mit anderen Worten: kann man ein misanthropischer Humanist sein? Oder ist dies bloß ein Oxymoron?

Menschen sind eine ungeheuer interessante Spezies. Wir sind in vielerlei Hinsicht einmalig, zumindest soweit wir es bisher wissen. Wir sind intelligent – und doch schaden wir uns ständig selbst, individuell wie kollektiv. Wir bevölkern nahezu alle Klimazonen der Erde, leben in völlig unterschiedlichen Umwelten – und waren schon immer sehr gut darin, diese nicht nur unseren Bedürfnissen anzupassen, sondern auch zu beschädigen. Zum Teil so sehr, dass wir unsere eigenen Lebensgrundlagen untergruben. Wir sind in der Lage, ungeheuer komplexe institutionell-technologische Systeme aufzubauen – nur um irgendwann festzustellen, dass wir zumindest als Einzelne von ihnen überfordert sind, sie nicht mehr verstehen, sie fürchten. Kurzum: unsere Intelligenz und „Wirkmächtigkeit“ sind ein Segen und ein Fluch zugleich.

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Das Sinnbild der menschlichen Destruktivität, die aus unserer ungeheuren Intelligenz und Kreativität erwachsen kann.

Auch unser Verhältnis zueinander ist einmalig – sowohl im Guten als auch im Schlechten. Wir sind zu Altruismus fähig, der zwar auch bei vielen Tierarten beobachtet wurde, doch kaum in einem Ausmaß und einer emotionalen Intensität, wie er regelmäßig unter Mitgliedern von homo sapiens auftritt. Ja, wir sind – und das ist einmalig – sogar dazu fähig, Altruismus gegenüber anderen Spezies zu entwickeln; Erich Fromm nannte dies Biophilie, die Liebe zum Leben. Gleichzeitig können und sind wir regelmäßig grausam zueinander – auch hier übersteigt das Ausmaß alles, was andere Tierarten zu bieten haben. Wir quälen, peinigen, betrügen einander selbst dann, wenn daraus kein offensichtlicher Vorteil erwächst. Besonders verstörend ist dabei, was die moderne Genozid-Forschung zeigt, beispielsweise die Arbeit von Harald Welzer zu den „deutschen Tätern“: dass auch scheinbar „normale“ Menschen sich an Grausamkeiten beteiligen. Diese werden zwar meistens von Menschen besonderer Prägung – Fromm nannte diese den destruktiven Charakter – initiiert; aber unter den Mitläufern findet sich der Durchschnitt des homo sapiens.

Diese Ambivalenz des Menschen – sowohl in seiner Individualität als auch im Kollektiv, die ja kaum voneinander zu trennen sind – wurde in den 1970er und 1980er Jahren auf den Punkt gebracht in der Debatte zwischen dem führenden „Kornukopisten“ (von cornucopia, lateinisch für Füllhorn) Julian Simon und den Wachstumskritikern Paul Ehrlich und Herman Daly: während der Technologie-Optimist Simon die neomalthusianischen Visionen von Ehrlich kritisierte und darauf hinwies, dass Bevölkerungswachstum doch etwas Großartiges sei – je mehr Menschen die Erde bevölkern, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass unter ihnen ein Einstein zu finden ist –, entgegnete ihm Daly mit dem trockenen Hinweis, dass dies mit der Wahrscheinlichkeit einhergeht, dass ein neuer Hitler geboren wird.

Wenn man über moderne psychologische Forschung liest, einschließlich der Neuropsychologie, bekommt man den Eindruck, dass der Mensch zwar durchaus ein sehr intelligentes und kreatives Wesen ist – aber trotzdem sehr anfällig für Denkfehler, Fehleinschätzungen der Realität, Selbstüberschätzung etc. Sozialpsychologie, Soziologie, Ökonomik zeigen, dass dies umso schlimmer wird, wenn wir den Fokus vom Individuum auf das Kollektiv verschieben. Gruppenzwang, Herdentrieb, soziale Dilemmata sind nur ein paar ausgewählte Stichworte in diesem Kontext. Derartige problematische Eigenschaften des Menschen werden mitunter noch verstärkt von der bereits erwähnten Komplexität der Welt; eine Komplexität, die wir größtenteils selbst Schritt für Schritt erschaffen haben. Doch sie überfordert die meisten von uns – wir können weder das Bild der physikalischen Welt, das uns die moderne Wissenschaft liefert, wirklich nachvollziehen, noch ist es uns i. d. R. möglich, die Komplexität der Wirtschaft oder Politik wirklich zu erfassen. Wir sind dazu verdammt, bestimmten Behauptungen von Experten einfach zu glauben. Zu welchen Problemen dies führen kann und welches Manipulationspotenzial diese Situation impliziert, zeigt die nicht enden wollende Debatte um die Realität des anthropogenen Klimawandels besonders deutlich.

Aus einem solch ambivalenten Menschenbild folgt eine ambivalente Einstellung zu der Spezies homo sapiens. Eine Einstellung, die ich den misanthropischen Humanismus nenne. Misanthropisch nicht unbedingt in dem Sinne, dass ich Menschen verabscheuen würde – so weit würde ich nicht gehen. Aber aufgrund der oben erwähnten Erkenntnisse der Sozialwissenschaften aller Art erwarte ich von Menschen, ob Individuen oder Kollektive, nicht allzu viel Konstruktives. Das liegt nicht zwangsläufig daran, dass wir im Lorenz’schen Sinne „von Natur aus“ böse wären – ich würde dazu tendieren, wirklich böse Menschen mit Fromm als Produkte ungünstiger Kombinationen aus verschiedensten Einflüssen und „angeborenen“ Charakterschwächen zu sehen. Doch der Mensch ist definitiv charakterlich und kognitiv beschränkt (s. o.); und auch die Einflüsse, die auf ihn einwirken, werden wir vermutlich nie vollständig unter Kontrolle bekommen, so ausgeklügelt unsere gesellschaftlichen Institutionen auch sein mögen. Dummheit, Ignoranz, Myopie, Grausamkeit, Egoismus gehören zum Menschen und zu menschlichen Gesellschaften fest dazu – obwohl sie uns keineswegs in dem Sinne angeboren sein dürften, wie Konrad Lorenz es meinte. Diese Erkenntnis, dass der Mensch inhärent beschränkt und daher nur bedingt zu konstruktivem Verhalten fähig ist, ist für den misanthropischen Teil des misanthropischen Humanismus verantwortlich.

Gleichwohl folgt der humanistische bzw. liberale Teil de facto aus genau derselben Erkenntnis – dass der Mensch zwar beschränkt und oft nicht konstruktiv ist, dass dies aber zugleich das Resultat sehr vieler Faktoren ist, auf viele von denen das Individuum nur sehr beschränkt Einfluss hat. Aus der Überzeugung, dass selbst „böse Menschen“ nicht „von Natur aus“ böse sind, folgt dann auch eine grundsätzliche Unschuldsvermutung: kein einzelner Mensch verdient es, verdammt oder ignoriert zu werden, nur weil er ein homo sapiens ist – oder nur, weil er einer bestimmten Untergruppe von homo sapiens angehört. Jeder Mensch hat einen Anspruch auf Solidarität (allerdings nicht völlig bedingungslos); und jeder hat einen Anspruch auf individuelle Freiheit. Als den entscheidenden Grund für die Freiheitsforderung sehe ich die alte Mill’sche Devise (auf die ich mich in diesem Blog immer wieder berufe): auch und gerade aufgrund der oben aufgezählten Beschränkungen können wir uns nie darauf verlassen, dass wir „Recht haben“; und daraus folgt, dass wir Andere mindestens so weit ihre eigene Sicht der Dinge umsetzen lassen sollten, wie dies nicht mit unserer eigenen Freiheit oder der Freiheit Dritter offensichtlich konfligiert. Was die Solidarität anbetrifft, muss ich gestehen, dass ich keine „Letztbegründung“ zu bieten habe, außer einer vagen Hoffnung auf Reziprozität als Pendant zum Liberalismus. Obwohl ich ihn eigentlich des Relativismus bezichtige, muss ich mich also vielleicht darauf beschränken, mit Richard Rorty zu hoffen, dass die humanistische Solidarität ein überzeugendes Narrativ sein kann – ohne eine unumstößliche Begründung, z. B. mittels einer Referenz auf eine „ahistorische Rationalität“ oder dergleichen, liefern zu können.

Die humanistische Komponente bedeutet übrigens, dass man trotz der misanthropischen Perspektive den Menschen nicht aufgeben darf. In Begriffe der heutigen politischen Realität übersetzt – trotz kontinuierlicher Umweltzerstörung wegen nicht-nachhaltiger Konsummuster, trotz der Wahlerfolge von Rechtspopulisten jeglicher Couleur, trotz des oft überwältigenden Gefühls der Ohnmacht angesichts der von IS, vom Assad-Regime, von Kim Jong-Un, von mexikanischen Drogenkartellen verübten Gräueltaten… All diesen entmutigenden und oft von menschlicher Böswilligkeit, Ignoranz und Dummheit zeugenden Ereignissen zum Trotz gilt es, weiterzumachen. Oft im (sehr) Kleinen, denn als Einzelne und in der kurzen Frist haben wir kaum einen Einfluss auf, beispielsweise, die Ereignisse in Syrien. Doch um ein abgedroschenes Sprichwort zu bemühen – der stete Tropfen höhlt den Stein. Und wenn keine Tropfen mehr fallen, würde dies bedeuten, die Leidenden aufzugeben.

Willkommen in der Welt des misanthropischen Humanismus.

UPDATE [8.4.2021]: Jahrelang dachte ich, der Begriff „misanthropischer Humanismus“ wäre meine eigene Erfindung. Bis ich kürzlich zufällig entdeckte, dass dem mitnichten so ist – offenbar war ich im Dezember 2012 darauf gestoßen, beim Lesen von Stanisław Lems Dzienniki gwiazdowe (dt. Sterntagebücher). In einem der Begleittexte verwendete Wojciech Orliński genau diesen Begriff, um Lems Philosophie (treffend) zu beschreiben. Offenbar habe ich dies anschließend vergessen, um 5 Jahre später den Begriff „auszugraben“ (überzeugt, es wäre eine Neuerfindung meinerseits), um die eigene „Philosophie“ treffend zu benennen. Um den britischen Rapper Scroobius Pip zu paraphrasieren: Nothing’s original, I stole this [term] from [Lem] / And from some others too, can’t think right now, I’ll name ‚em later (Introdiction vom Album Distraction Pieces, 2011)

Ein Gedanke zu “Misanthropischer Humanismus

  1. Repostet von Facebook (Kommentar von Daniel mitsamt meiner Antwort):

    Was du unter dem Misanthropischen zusammenfasst, lässt sich in meinen Augen unter dem Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft fassen. Nicht ohne Grund, denke ich, führt die systematische und permanente Überforderung des Einzelnen in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen dahin, ihr Glück, ihre Zufriedenheit und Bestimmung in kleineren, von der Gesellschaft so weit als möglich autarken Gruppen, Gemeinschaften eben, zu suchen. Wohin das führt, ist zumindest für mich im Moment nicht abzusehen, aber es scheint eine Form der Entlastung zu sein von Konsum- und Leistungsdruck und von der den Einzelnen überfordernden (und möglicherweise unnötigen) Komplexität…

    Ich kann diesen kommunitaristischen Reflex sehr gut nachvollziehen: hätte selbst manchmal Lust, mich mit ein paar Leuten, die ich schätze, in die Wälder Kanadas abzusetzen, um dieser Welt zu entfliehen, in der ständig schlimme Sachen passieren, auf die ich kaum Einfluss habe. Nichtsdestotrotz halte ich diesen Reflex für einen naiven und gefährlichen Eskapismus. Naiv, weil er Probleme nicht löst, sondern höchstens verlagert: in die Zukunft oder auf Leute, die sich an dem Eskapismus nicht beteiligen können oder wollen (denn die Welt ist zu vernetzt und zu voll als das wir uns alle in kleine, autarke Gemeinschaften zurückziehen könnten – zumal meine These ist, dass solche Gemeinschaften nur funktionieren, solange es die große Gesellschaft im Hintergrund gibt). Gefährlich, weil es früher oder später zwischen solchen Gemeinschaften zu Konflikten kommen würde – um Ressourcen, um Ideologien… Das scheint mir eine naive Romantisierung der alten, vermeintlich guten Zeiten, als die Welt noch simpel war.

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