Werbung, Kant und Statistik

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Schon des Öfteren war ich in Gespräche verwickelt, in denen es darum ging, ob man denn Werbung verbieten oder zumindest einschränken sollte, weil sie uns dazu animiere, Sachen zu kaufen, die wir eigentlich gar nicht benötigen. Wenn es um derartige Beschränkungen geht, klingeln bei mir als ausgebildeten Ökonomen sofort die Alarmglocken – Was ist mit der Konsumentensouveränität? So einfach ist die Sache natürlich nicht, denn viele Konsumenten sind nun mal nicht souverän – sie lassen sich täuschen, sie lassen sich Produkte aufschwatzen, die sie gar nicht brauchen. Heutzutage umso mehr, da Google-Algorithmen personalisierte Werbung erlauben. Die Frage ist nun: sollte man Konsumenten zu ihrem Besten bevormunden, indem man Werbung mit Beschränkungen belegt (jenseits von dem einleuchtenden Verbot, Unwahres über seine Produkte zu behaupten)?

Immanuel_Kant_(painted_portrait)Um diese Frage zu beantworten, kann man sich auf die neoklassisch-ökonomische Konsumentensouveränität berufen (wenn der Konsument meint, irgendwas kaufen zu wollen, dann ist es sein Ding). Oder man beruft sich auf Immanuel Kant und seine Definition der Aufklärung, die ich eingangs zitierte. Das Problem vieler heutigen Konsumenten und Bürger ist, dass sie in Kants Sinne unmündig sind – sie lassen sich Zeug aufschwatzen, ob in der Werbung oder von Pegida, AfD und Horst Seehofer. Statt sich des eigenen Verstandes kritisch zu bedienen, folgen sie einfachen Impulsen. So kann weder eine Demokratie gut funktionieren noch sinnloser und verschwenderischer Konsumismus überwunden werden.

Doch stellt sich die Frage, wenn man sich das Kant-Zitat wirklich zu Herzen nimmt, inwieweit die Unmündigkeit selbstverschuldet ist. Und da wird es kompliziert. Denn ein relevanter Aspekt ist zwar sicherlich, dass es bequem ist, sich des eigenen Verstandes nur bedingt zu bedienen – und das neue iPhone zu kaufen, wenn Tim Cook einem versichert, dass es so toll und modern und innovativ ist, dass man es haben müsste. Tut man dies, ohne das iPhone in irgendeinem objektiven Sinne zu brauchen, ist es selbstverschuldete Unmündigkeit par excellence. Doch derartiges Verhalten – dass man sich auf Suggestionen Anderer verlässt – hat auch andere Gründe. Zum Beispiel – und das dürfte oft der Fall sein, sowohl in Bezug auf Politik als auch auf Konsum –, dass uns das Wissen mangelt, um eigene, 100%ig mündige Entscheidungen zu treffen.

Irgendjemand hat mal geschrieben (leider kann ich mich nicht erinnern, wer es war), dass den meisten politischen Kontroversen nicht Unterschiede in Wertvorstellungen zugrunde liegen, sondern vielmehr unterschiedliche Interpretationen von Fakten, von Realität. So sind viele Liberale nicht anderer Meinung bezüglich des Mindeslohns, als Linke es sind, weil sie andere Werte vertreten. Vielmehr resultiert der Unterschied daraus, dass Liberale glauben, dass der Mindestlohn unter einer ganzheitlichen Betrachtung für die Geringverdiener von Nachteil ist (weil sie entlassen werden), während Linke glauben, dass er für ebendiese Geringverdiener von Vorteil ist. Leider lässt sich die korrekte Antwort mitnichten so leicht ermitteln, wie dies in öffentlichen Debatten manchmal suggeriert wird. Was ich damit sagen möchte (es geht mir ja heute nicht um den Mindestlohn): dass wir uns auf Autoritäten bzw. auf Menschen, die wir für Autoritäten halten, verlassen, ist oft der einzige Ausweg, der uns in dieser komplexen Welt bleibt. Wir können nicht über alles Bescheid wissen. Dies können Politiker und Werbe-Abteilungen leider sehr gut ausnutzen. Ob das jedoch Unmündigkeit ist?

Ein anderer wichtiger Aspekt ist, dass vielen von uns das notwendige Basiswissen fehlt – nicht bezogen auf Fakten, sondern auf das Verständnis von bestimmten grundlegenden Zusammenhängen. Gerade habe ich ein nettes kleines Büchlein durchgelesen, How to Lie With Statistics von Darrell Huff. Es geht darin darum, wie leicht es ist, mithilfe von objektiv wahren Statistiken in die Irre geführt zu werden. Obwohl recht alt (es wurde 1954 veröffentlicht), ist das Buch immer noch aktuell, zumal neuere Untersuchungen (siehe bspw. hier) zeigen, dass Menschen generell Schwierigkeiten haben, mit Statistiken und Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Hinzu kommt, dass den meisten schlicht und einfach die statistischen basics fehlen – im Mathematik-Unterricht werden Stunden um Stunden für das Erlernen der Differenzial- oder der Vektorrechnung verschwendet, die ein normaler Mensch nie im Leben brauchen wird, während Statistik, einer der wenigen Bereiche der Mathematik, die von direkter Alltagsrelevanz sind, eher das Dasein eines Statisten im Lehrprogramm fristet. Und so lassen sich Menschen immer wieder von schön aussehenden, aber belanglosen und irreführend dargestellten Statistiken veräppeln, wie Huff in seinem Buch eindrucksvoll beschreibt.

Generell gibt es ein Problem mit dem Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit – den schafft nicht jeder völlig allein. Obgleich „Aufklärung“ im Kant’schen Sinne die Selbstverantwortung des Einzelnen in den Vordergrund stellt, lässt sich nicht leugnen, dass bei ihr auch „Aufklärung“ im alltagssprachlichen Sinne eine Bedeutung zukommt – d. h. Aufklärung durch bzw. mithilfe Anderer. Und dazu ist traditionell die Schule da. Doch leider funktioniert im heutigen Bildungssystem vieles nicht so, wie es sinnvollerweise sollte. Dies betrifft nicht nur den Mathematikunterricht und den relativen Stellenwert der Statistik, sondern auch generelle Fragen, wie das Fördern selbstständigen Denkens. Wenn man nicht das Glück hat, durch Zufall auf außergewöhnlich gute Lehrer zu stoßen oder andere Bezugspersonen zu haben, die einem dabei helfen, muss man sich selbstständiges, kritisches Denken auch heutzutage, über 200 Jahre nach Kant, selbst beibringen. Was alles andere als einfach ist. Der Ausgang aus der Unmündigkeit ist heute wahrscheinlich deutlich einfacher als zu Kants Zeiten, doch sollte man daraus mitnichten schließen, dass wir bereits „aufgeklärt“ wären – denn die Aufklärung ist kein Zustand, den man einmal erreicht und gut ist. Es ist ein immerwährender Prozess.

Was bedeutet all dies für die Ausgangsfrage nach der Notwendigkeit der Regulierung von Werbung? Tendenziell bleibe ich bei meiner „ökonomisch-kantschen“ Meinung – der Einzelne ist selbst dafür verantwortlich, was er wählt, ob im Supermarkt oder in der Wahlkabine. Wenn er sich irreführen lässt, obwohl die ihn Irreführenden von offensichtlichen Lügen absehen, ist er sich im Großen und Ganzen selbst schuld. Soweit zumindest das Ideal, das voraussetzt, dass ein Jeder Mündigkeit selbstverantwortlich erlangen kann. Doch wie ich oben angedeutet habe, ist an der generellen Möglichkeit, selbst aus der Unmündigkeit herauszukommen, zu zweifeln. Für manche dürfte dies aufgrund äußerer Umstände (v. a. des sozialen Umfelds) einfacher, für andere deutlich schwieriger und aufwendiger sein. Eine gewisse Regulierung der Werbung (einschließlich politischer Werbung) dürfte also erwünscht sein, zumindest in einer Übergangsphase – langfristig sollte das Ziel, das v. a. durch Bildungspolitik zu erreichen ist, sein, dem Menschen endlich aus seiner nur zum Teil selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuhelfen. Denn einem mündigen Bürger und Konsumenten kann man selbst mittels personalisierter Facebook-Werbung nichts aufschwatzen, was sie/er eigentlich nicht braucht.

2 Gedanken zu “Werbung, Kant und Statistik

  1. Was ist, wenn jemand in eklatanter „Unmündigkeit“ ein iPhone für 500 € kauft, ohne es „objektiv“ zu brauchen – und dann trotzdem der Meinung ist, dass es sein Geld wert ist, oder es einfach so sehr schätzt weil es so teuer war (dann muss es ja toll sein)?

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    • Sein/ihr gutes Recht. Es ist natürlich ein sehr schmaler Grat zwischen Hilfe zur Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und Bevormundung. Deswegen plädiere ich ja auch dafür, dass man Menschen durch Bildung dazu ermächtigt, sich aus der Unmündigkeit zu befreien. Was sie dann als Erwachsene für Entscheidungen treffen, ist ihre Sache – solange nur sie selbst geschädigt werden (falls überhaupt irgendjemand geschädigt wird). Interessant wird es dann (jetzt abgesehen von Kant’scher Aufklärung), wenn die Verantwortung für fremdes Leid nur sehr diffus ist – so einig wir uns sein dürften, dass SUVs oder Flugreisen wegen ihrer Klimawirkungen negativ zu bewerten sind, würde ich mich davor hüten, den einzelnen SUV-Fahrer oder den einzelnen Fluggast für das Leid künftiger Bangladeschi verantwortlich zu machen. Doch wo verläuft die Grenze, aber der man nicht mehr nur vor sich selbst verantwortlich ist?

      Generell sind Fragen der Selbstverantwortung, Mündigkeit und einer liberalen Grundhaltung viel leichter im Abstrakten zu betrachten, als wenn man sie auf die konkrete Realität anwendet. Da finde ich dein iPhone-Beispiel noch vergleichsweise einfach.

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