Der Fortschritt ist wie eine Herde Schweine […] eine Herde Schweine, die auf dem ganzen Gehöft herumlaufen. Aus der Existenz dieser Herde ergeben sich verschiedene Vorteile. Es gibt Schinken. Es gibt Wurst, es gibt Speck, es gibt Eisbein in Aspik. Kurzum, Nutzen! Und da braucht man nicht die Nase zu rümpfen, dass alles vollgeschissen ist.
Zwerg Yarpen Zigrin in Andrzej Sapkowskis Die Dame vom See
Dieses, wie ich hoffe, auch für Vegetarier und Veganer nachvollziehbare Argument trifft man in der öffentlichen Debatte recht häufig, obgleich in sehr verschiedenen Varianten. Der Fortschritt selbst wird dabei sehr unterschiedlich definiert und auch seine Kosten unterschiedlich dargestellt. Einig ist man sich aber, dass diese Kosten zu tragen seien, weil der Nutzen des Fortschritts sie eindeutig überwiege. Manchmal wird dabei Fortschritt mit Wachstum gleichgesetzt, manchmal mit technologischem Fortschritt, manchmal mit der schrittweisen Aufgabe von „überkommenen“ gesellschaftlichen Mustern und Praktiken… Dabei wird implizit oft die Behauptung aufgestellt, dass es sinnlos sei, sich gegen den Progress zu wehren, weil dieser eine nichtintendierte Folge kollektiven menschlichen Handelns bzw. menschlicher Psychologie sei. D.h., er kommt sowieso, egal ob wir es wollen oder nicht.

Da ist durchaus etwas Wahres dran, und zwar unter jeder der oben genannten Interpretationen von Fortschritt. Wirtschaftliches Wachstum aufzuhalten dürfte schwierig sein – auch wenn die Wirtschaftspolitik darauf ausgerichtet ist, ist das Argument schwer von der Hand zu weisen, dass letzten Endes Wachstum sich einfach „ergibt“ als Folge der institutionellen und (sozial-)psychologischen Gegebenheiten der Moderne. Technologischer Fortschritt ist umso schwieriger im Zaum zu halten – anders als oft behauptet, entstehen neue Technologien nämlich nicht „auf einmal“, sondern sind das Ergebnis evolutiver, unübersichtlicher, meist nicht zielgerichteter Prozesse. Irgendwann ist dann eine Technologie da, wir stellen plötzlich fest, dass wir sie eigentlich lieber nicht hätten, und Stimmen werden laut, derartige Forschung sollte man verbieten (siehe Gentechnik). Aber wo zieht man die Grenze? Bis wohin dürfen die Forscher frei forschen, ab wann dann nicht mehr? Abgesehen von der Schwierigkeit, Forschungsprozesse zu regulieren, die erst im Gange sind, d.h. ihre Ergebnisse zu antizipieren. Und auch was gesellschaftlichen, sozusagen „sittlichen“ und institutionellen Fortschritt anbetrifft, ist dieser meistens schleichend und daher schwer aufzuhalten. Man kann versuchen, in einem Idealzustand zu verharren, den status quo krampfhaft zu verteidigen (wie z.B. in Polen der Fall, wo man sich gegen Genderismus, Homosexuellen-Propaganda, Zerstörung traditioneller Familie und „aggressive“ Säkularisierung und Atheisierung der Gesellschaft wehrt) – in den meisten Fällen schafft man es jedoch höchstens, den Wandel hinauszuschieben und ggf. schmerzhafter zu machen, weil er dann auf einmal über einen herfällt.
Gleichwohl ist es natürlich nicht so, dass man Fortschritt, wie auch immer definiert, einfach akzeptieren müsste und sich von der davongaloppierenden sozialen Realität treiben lassen sollte. Die Geschichte ist bei Weitem nicht so deterministisch-zielgerichtet, wie z.B. von klassischen Marxisten behauptet. Es ist zwar utopisch anzunehmen, man könnte ihren Verlauf bewusst steuern, aber es ist auch naiv und überzogen fatalistisch zu glauben, man hätte überhaupt keinen Einfluss auf sie. Die TINA-Losung der Thatcheristen und Reaganisten (there is no alternative [to neoliberal capitalism]) stimmt ebenfalls nicht. So schwierig bewusst gewollter, gerichteter Wandel in Abweichung vom business-as-usual-Trend sein mag, hoffnungslos ist die Sache keineswegs.
Man könnte auf einer höheren Abstraktionsebene sagen, dass Fortschritt für die meisten die Befreiung von Zwängen bedeutet. Diese Zwänge lassen sich in zwei grobe Kategorien einteilen: „natürliche“ und „soziale“. Wirtschaftswachstum und technologischer Fortschritt adressieren im Verständnis ihrer Befürworter die erste Kategorie: es geht um die Befreiung des Menschen von Zwängen der Natur, d.h., um die Überwindung materieller Not im ersten Schritt bzw. um die zunehmende Komfortabilität des menschlichen Lebens im zweiten. Das Problem hier ist, dass diese Art von Fortschritt, die Befreiung von Natur, uns schleichend in andere Abhängigkeitsverhältnisse führt – unser Wohlstand, unsere materielle Unabhängigkeit, sind ihrerseits abhängig von globalisierten Netzwerken, komplexen Energie- und Güterversorgungssystemen, ebenso komplexen Informations- und Kommunikationssystemen. Die Resilienz der menschlichen Systeme ist zwar größer geworden, aber nicht ganz so groß, wie es manchmal scheint. Und an der einen oder anderen Stelle haben wir uns womöglich in eine neue Abhängigkeit bewegt, die gar nicht notwendig war, um eine alte zu überwinden. Mancher Fortschritt ist eben nur oberflächlich.
Auch Fortschritt im Sinne der Befreiung des Menschen von sozialen Zwängen hat seinen Preis. Spätestens mit der Aufklärung setzte ein Prozess ein, in dem der Einzelne immer weniger abhängig davon war, was Andere über ihn und sein Leben denken. Angefangen mit der bloßen Freiheit, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören, über die Emanzipation der Frauen bis hin zu Anerkennung alternativer sexueller Identitäten gewann das Individuum über die Jahrhunderte immer mehr Autonomie. Dies ist eine sehr wertvolle Entwicklung. Aber auch sie hat Kosten. Denn Autonomie bedeutet auch Verantwortung für sich selbst. Vielerorts ist das Resultat der eigentlich zu begrüßenden Individualisierung der Gesellschaft ihre Atomisierung. Den Kontrast sieht man heutzutage besonders deutlich, wenn man Städte mit ruralen Gebieten vergleicht. In Ersteren ist der Mensch i.d.R. viel autonomer, freier, kann seine Individualität besser ausleben. In Letzteren hingegen ist man oft sicherer, kann auf stabilere soziale Netzwerke zurückgreifen.
Gibt es auch einen Fortschritt, „materiell“ wie sozial, ohne Kosten? Im Grunde ist er das, was viele Postwachstumsdenker suchen – ein Abwerfen des Balasts des bisher Erreichten und eine Verbindung der guten Seiten des Alten und des Neuen. Individuelle Freiheit, Autonomie und Toleranz bei gleichzeitiger Einbettung in stabile und resiliente soziale Netzwerke. Befreiung von materieller Not bei gleichzeitiger Autonomie durch Regionalisierung, Subsistenz, Kompetenzaufbau, und das noch ohne Überbelastung der natürlichen Grundlagen. Verwendung modernster Technologien ohne den heute leider häufig auftretenden Exzess. Klingt nach einer Utopie? Natürlich. Wahrscheinlich werden die Idealvorstellungen der Paechs und Welzers dieser Welt nie verwirklicht, zumindest nicht in der Form, in der sie ihnen vorschweben. Doch wie ein guter Freund von mir zu betonen pflegt: die Utopien von heute sind die Realität von morgen bzw. man braucht eine Utopie als Zielvorstellung, damit man weiß, was man anstrebt. Selbst wenn man letzten Endes nie wirklich dort ankommen sollte.
Wie ist es also nun mit dem Fortschritt? Darf man die Nase rümpfen, dass alles vollgeschissen ist? Durchaus. So chaotisch und damit kaum steuerbar gesellschaftliche Entwicklungen aller Art sind, so sehr ist es menschlich, sie nicht einfach fatalistisch hinzunehmen, sondern zu versuchen, sie nach den eigenen Vorstellungen (Utopien) zu prägen. Und dazu gehört erst einmal eine Diagnose, was am status quo alles faul ist, um dann zu möglichen Therapievorschlägen überzugehen. Auch wenn man sich dessen bewusst ist, dass die Therapie wahrscheinlich ganz anders wirken wird, als man es sich gedacht hatte.
Ja der Liebe Fortschritt. Naturwissenschaft und Technik schreiten unaufhaltsam voran, wie es scheint. Faszinierende Sachen sind möglich z.B. in der Biotechnologie und Lebensmitteltechnologie. Ingenieure konstruieren heute unser Essen mit technisch-wissenschaftlicher Präzision und Effizienz in der Lebensmittelindustrie. Dies macht unsere Ernährung (in Europa) so sicher und Effizient, dass wir unsere Energie und Zeit nicht mehr darauf verwenden nach Essen zu Suchen und es selber Herzustellen, sondern darauf, die gegessenen Kalorien loszuwerden, irgendwie zu vermeiden (Diäten) oder mit technisch-pharmazeutischen Mitteln dagegen vorgehen. Hier greift dann wunderbar ergänzend der Pharmazeutische Fortschritt den Schwächen des lebensmitteltechnischen Fortschritts unter die Arme.
Trotzdem es gibt es ja das Phänomen der sozialen Bewegungen (Katalysatoren sozialen Wandels) und in Sachen Lebensmitteln macht sich grade eine Foodie-Bewegung auf den Weg, mal sehen wo das hinführt, ich hoffe auf gutes und werde mich selber einbringen.
Hier Infos zur pluralen foodie-Bewegung:
http://kochkultur-leipzig.de/2014/10/12/bio-vegan-regional-palao-und-slow-food-hippe-trends-oder-gesellschaftlicher-wandel/
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Was du hier ansprichst, ist das altbekannte Problem des Menschen, sich selbst zu überschätzen. Wir weisen als Fortschritt aus, was wir in Wirklichkeit noch nicht ganz beherrschen. Hinzu kommt, dass wir Fortschritt allzu oft zu eng fassen, beschränkt eben auf Technologie, und damit soziale Aspekte vergessen. Eine „holistischere“ Sicht auf Fortschritt wäre womöglich durchaus mit der „Foodie-Bewegung“ vereinbar, wenn man z.B. bedenken würde, dass Kochen und Essen soziale Handlungen sind, nicht bloße physiologische Prozesse, die man beliebig optimieren kann.
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