Publikationsdruck und die Qualität der Forschung

In den meisten Ländern ist die letzte Stufe der formalen akademischen Qualifikation die Promotion. Deutschland gehört zu der Handvoll Länder, in denen es nach dem Doktor weitergeht – erst mit einer Habilitation hat man keine Möglichkeit mehr, einen höheren akademischen Grad zu erreichen. Kürzlich hatte ich zwei aufschlussreiche Gespräche bezüglich meiner eigenen Pläne, in näherer Zukunft zu habilitieren. Beide führten mir ein Problem vor Augen, unter dem das heutige Wissenschaftssystem leidet – den Überhand nehmenden Publikationsdruck, dem vor allem Nachwuchswissenschaftler*innen unterliegen.

Das erste dieser beiden Gespräche war kurz, aber in seiner Kürze dennoch sehr aufschlussreich – ich führte es kurz vor der Promotionsverteidigung eines Freundes mit einer ebenfalls anwesenden Professorin, bei der ich einst studiert hatte. Als ich meine Habilitationspläne erwähnte, bemerkte sie, dass dies insofern eine gute Idee sei, als es immer noch „altmodische“ Fakultäten gibt, die nur habilitierten Wissenschaftler*innen einen Lehrstuhl anbieten. Gleichwohl gehe es de facto vor allem um Publikationen – je mehr, desto besser –, daher erschlagen die meisten heutzutage zwei Fliegen mit einer Klappe und habilitieren kumulativ, schreiben also kein Buch (wie früher üblich, als man die Inhalte seiner Habilitation gar nicht vorher in anderer Form veröffentlichen durfte), sondern reichen eine unbestimmte Anzahl an thematisch oder methodisch zusammenhängenden Fachartikeln als Habilitationsschrift ein. Damit kommt man sowohl bei „altmodischen“ als auch bei „progressiven“ Fakultäten gut an.

Nun ist mein Problem aber, dass ich durchaus Bock hätte (man verzeihe mir den Kolloquialismus), wieder ein Buch zu schreiben. Es hat auch eine gewisse Attraktivität, so eine Habilitationsschrift in Buchform – sie ist „aus einem Guss“, gegebenenfalls auch durchdachter, besser strukturiert, mit einem klaren roten Faden. Außerdem schreibe ich gern und würde (banal wie es klingen mag) gern mal ein Buch in LaTex setzen statt wie die Diss in MS Word. Hierzu hatte ich allerdings ein anderes Gespräch mit einem erfahrenen Kollegen, der mich darauf hinwies, dass das alles schön und gut sei – aber man habe nichts davon, ein Buch zu veröffentlichen. Was zumindest in der Ökonomik (in Naturwissenschaften oft noch viel mehr, in Geisteswissenschaften tendenziell eher weniger) zählt, sind einzig Fachartikel. Kurz, knapp, peer-reviewed und relativ leicht online zugänglich. Ein Buch hingegen bedeutet recht viel Aufwand – selbst bei mir, obwohl mir das Schreiben vergleichsweise leicht fällt –, bringt aber wenig Nutzen. Ich müsste also, ähnlich wie schon bei der Dissertation, so oder so Teile der Habilitation in Artikelform veröffentlichen, was doppelte Arbeit bedeutet.

Das zusammengefasste Ergebnis meiner beiden Gespräche also: für meine wissenschaftliche Zukunft ist Publizieren, bevorzugt in Fachzeitschriften, essenziell. Es ist definitiv nicht der einzige Faktor (andere sind bspw. Lehrerfahrung, eingeworbene Drittmittelprojekte, Auslandsaufenthalte etc.) – doch da ich in anderen Feldern aus unterschiedlichen Gründen weniger zu bieten habe, zumindest für mich als Argument nicht von der Hand zu weisen. Die Erkenntnis als solche ist auch nicht neu – und doch diskussionswürdig, wie ich finde. Denn der implizite Publikationsdruck, mit dem vor allem Nachwuchswissenschaftler*innen konfrontiert sind, bringt einige Probleme mit sich.

Doch zunächst eine triviale Feststellung: natürlich kann Wissenschaft ohne Publikationen nicht funktionieren, egal ob Ökonomik oder andere Disziplinen. Dies hat gleich mehrere Gründe. Der vermutlich wichtigste Grund: Wissen wird kumulativ generiert, durch Austausch, Kooperationen und viele kleine Beiträge, die sich zu – eben, Wissen aufaddieren.1 Damit der Austausch stattfinden kann, damit die Ergebnisse einer Forschungsgruppe die Forschung einer anderen Forschungsgruppe inspirieren können, damit man neue Fragestellungen identifiziert, aber auch damit das Gleiche nicht unnötigerweise mehrmals gemacht wird/werden muss – aus all diesen Gründen sollten und müssen wissenschaftliche Ergebnisse nach außen kommuniziert werden. Dafür hat sich das Mittel wissenschaftlicher Publikationen etabliert, mitsamt eines Qualitätssicherungsmechanismus in Form des Peer-Review. Des Weiteren sollte man nicht vergessen, dass die meiste Forschung heutzutage öffentlich finanziert ist – und (peer-reviewte) Publikationen sind ein zwar imperfektes, aber doch ein brauchbares und einfaches Maß dafür, ob die Steuergelder auch zu greifbaren Ergebnissen führen, also nicht verschwendet werden. Natürlich schließt sich hier sofort eine weitere Diskussion an, nämlich über den öffentlichen und freien Zugang zu den besagten, publizierten Forschungsergebnissen (dazu gleich mehr) – doch zunächst ist festzustellen, dass das Publizieren der Rechtfertigung der Verwendung öffentlicher Gelder dient. Und zuletzt hat das Publizieren, gerade in Fachzeitschriften und damit in kürzeren Abständen als bei Büchern, eine vielleicht banalere, aber nichtsdestotrotz wichtige „psychologische“ Funktion aus Sicht der Forscherin – es ist ein Erfolgserlebnis. Ich kenne keine Wissenschaftlerin und keinen Wissenschaftler, die sich nicht freuen, wenn ein Manuskript von ihnen bei einer Fachzeitschrift zur Publikation angenommen wird. Natürlich schwankt die Intensität der Freude mit vielen Faktoren – Erfahrung der betreffenden Person, subjektiver Rang der Zeitschrift etc. Doch man braucht dieses Gefühl, einen Abschnitt der eigenen Arbeit mit Erfolg abgeschlossen zu haben.

All dies bedeutet, dass das Publizieren wichtig ist. Allerdings rechtfertigen die oben angeführten Gründe nicht das Ausmaß des Publikationsdrucks, mit dem insbesondere Nachwuchswissenschaftler*innen konfrontiert sind. Und dabei gilt: (i) je mehr (Publikationen pro Zeiteinheit), desto besser, sowie (ii) je renommierter die Zeitschrift, in der man eine Publikation untergebracht hat (üblicherweise sehr grob am Impact Factor gemessen), desto besser. Das hat gleich hinsichtlich mehrerer Dimensionen einen negativen Einfluss auf die Qualität der Forschung. Dieser Einfluss ist im Einzelnen üblicherweise nicht drastisch – sprich, man kann auch unter diesen Bedingungen gute Forschung betreiben –, aber er akkumuliert sich. Und er ist unnötig.

Das Hauptproblem: will man viel publizieren, kann man es sich kaum leisten, sich für die eigene Forschung Zeit zu nehmen. Denn gute, qualitativ hochwertige Forschung braucht in der Regel viel Zeit. Allein, eine gute Forschungsfrage zu finden, die einen selbst, die eigene Disziplin und die Wissenschaft allgemein wirklich voranbringt, dauert lange. Gute Forschungsfragen fallen nicht vom Himmel – dies dürfte einer der Gründe (obwohl nicht unbedingt der wichtigste) dafür sein, dass Forschung heutzutage sehr häufig anhand von trendigen Buzzwords stattfindet. Ökosystemdienstleistungen ist ein prominentes Beispiel aus meinem Forschungsbereich. Damit möchte ich nicht sagen, dass dieses oder die anderen populären Themen unwichtig wären oder kein Potenzial bergen würden für echte, hochwertige Erkenntnisse. Keineswegs. Doch ich vermute, dass solche Trendthemen, auf die sich zeitweise (fast) alle stürzen, oft zu Ineffizienzen führen, weil zu viel Forschung zu ähnlich ist und das Spektrum der dann bearbeiteten Fragestellungen zu eng. Abgesehen davon, dass Buzzwords à la „Ökosystemdienstleistungen“ oder „Nachhaltigkeit“ dazu führen, dass (i) alte Erkenntnisse nochmal gemacht werden oder gar nur „aufgewärmt“ und in neues Vokabular gekleidet werden;2 (ii) Teile der Forschungsaktivitäten selbstreferenziell werden, wenn sich Protagonist*innen streiten, wie Buzzword A sich zu einem älteren Buzzword B verhält und was das für die aktuelle Forschung bedeutet. Wenn man aber nicht die Zeit hat, sich in Ruhe ein wirklich neues, spannendes und innovatives Forschungsthema zu suchen, landet man oft, nolens volens, bei den Themen, die gerade trendy sind (dies wird auch dadurch verstärkt, dass Forschungsergebnisse zu trendigen Themen oft leichter publizierbar sind). Dieser negative Effekt des Publikationsdrucks auf Neuartigkeit und Innovativität der Forschung wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass der Publikationsdruck vor allem diejenigen trifft, von denen man sich eigentlich am meisten Innovativität erhofft – Nachwuchswissenschaftler*innen und unter ihnen insbesondere die Post-docs, also diejenigen, die schon viel Wissen angesammelt haben, aber noch nicht in ihrem Denken festgefahren sind und oft immer noch auf der Suche nach einem eigenen Profil (das sich ja gerade durch innovative Forschungsthemen definiert).

Hinzu kommt außerdem, dass viele innovative Forschungsprojekte nur dann wirklich gute, relevante Ergebnisse produzieren können, wenn man sich auch für die Durchführung Zeit nimmt. Gerade bei empirischer Forschung trifft das zu – ob es darum geht, vorhandene Daten zu sammeln (wenn man bspw. große Datenmengen aus verschiedenen Quellen kombinieren möchte), aufwendige und nicht-standardisierte Experimente oder Erhebungen vorzubereiten und durchzuführen (ggf. mehrmals, weil nicht immer alles beim ersten Anlauf klappt) oder die so entstandenen Ergebnisse gewissenhaft und umfassend zu analysieren. All das braucht Zeit. Wenn man sich eines solchen Projektes annimmt, kann es durchaus sein, dass man dann für eine längere Zeit nichts publizieren kann.3 Natürlich kann man sich anschließend, wenn umfangreiche Ergebnisse anfallen, der sogenannten „Salamitaktik“ bedienen, und die Ergebnisse in kleinen, dosierten Mengen Stück für Stück veröffentlichen, um nach einer längeren Durststrecke in kurzer Zeit viele Publikationen zu generieren – doch ob das gute wissenschaftliche Praxis ist, ist mindestens umstritten. Und auch die Salamitaktik kann nur helfen, eine Durststrecke nachträglich wieder „auszugleichen“ – es bleibt aus heutiger Sicht, angesichts des Publikationsdrucks, eine Durststrecke.

Der Zeitmangel für eine ruhige Sichtung und Betrachtung des eigenen Feldes (und benachbarter Felder) sowie für die Durchführung von möglicherweise innovativen und hochrelevanten Forschungsvorhaben, bei denen man aber auf die Ergebnisse lange warten muss, ist vermutlich das Hauptproblem, das vom übermäßigen Publikationsdruck verursacht wird. Doch es gibt weitere Probleme. Kürzlich las ich auf dem LSE Impact Blog einen sehr interessanten, kurzen Text, in dem ein gestandener Professor sich in Selbstkritik übt ob seines „heuchlerischen“ Publikationsverhaltens – denn wenngleich er auf Blogs und in Vorträgen die fragwürdigen Praktiken von Großverlagen wie Elsevier oder Spinger kritisiert und für Open Science plädiert, also u. a. dafür, in Open-Access-Zeitschriften zu publizieren, machen er und seine Mitarbeiter*innen das selbst nur selten. Warum?

In academia, journal brand is everything. I have sat in many committees, read many CVs, and participated in many discussions where candidates for a postdoctoral position, a fellowship, or other roles at various rungs of the academic career ladder have been compared. And very often, the committee members will say something along the lines of “Well, Candidate X has got much better publications than Candidate Y”…without ever having read the papers of either candidate. The judgment of quality is lazily “outsourced” to the brand-name of the journal. If it’s in a Nature journal, it’s obviously of higher quality than something published in one of those, ahem, “lesser” journals.

Sprich: gerade als Nachwuchswissenschaftlerin, von der verlangt wird, dass sie viel und möglichst hochrangig publiziert, kann man es sich schwer leisten, bei der Auswahl von Zeitschriften wählerisch zu sein. Und da in vielen Feldern gute (d. h. Open Access) Zeitschriften nicht hoch angesehen sind, während „gute“ (angesehene, hoher Impact Factor) Zeitschriften hingegen meist von Elsevier, Springer oder Wiley herausgegeben werden, kommt man nicht umhin, wider sein Gewissen bei Letzteren zu publizieren. Erst als Professorin kann man es sich dann wirklich leisten, wählerisch zu sein – aber auch dann nur (s. Zitat oben), wenn man damit nicht seinen jüngeren Ko-Autor*innen schaden möchte…

Publizieren ist für die Generierung von Wissen und das Funktionieren von Wissenschaft enorm wichtig. Und natürlich sind Publikationszahlen, Impact Factors, h-Indizes und ähnliche Proxies für die Qualität der Forschung verlockend einfach, leicht zu berechnen und leicht verständlich – viel leichter, als die flüchtige „Qualität der Forschung“ an sich. Sie haben also durchaus ihren heuristischen Wert. Doch trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse und hier und da langsam erkennbaren tatsächlichen Umdenkens führen sie zu einem starken Publikationsdruck, gerade für Nachwuchswissenschaftler*innen, für die eine lange Publikationsliste die beste und effektivste Bewerbung für eine künftige Professur (oder eine alternative Form stabiler, langfristiger Beschäftigung) ist. Dies führt aber zu einem Paradoxon: denn das einseitige Pochen auf Publikationszahlen (ein Maß für Qualität der Forschung) führt dazu, dass die Qualität der Forschung leidet. Sei es im engeren Sinne (wegen der negativen Auswirkungen auf Innovativität von Forschungsfragen und die Tiefe, mit der sie verfolgt werden), sei es im umfangreicheren Sinne der Perpetuierung eines „geschlossenen“ Systems der Wissenskommunikation (anstatt des Ideals der Open Science).

Wo liegt die Lösung? Eine „Entbindung“ von der Publikationspflicht ist es aus offensichtlichen Gründen nicht. Und eine silver bullet habe ich sowieso nicht parat. Doch einige erste Schritte scheinen zu sein:

  • eine tatsächliche Erweiterung der Kriterienkatalogs für die Bewertung der Forschungsqualität;
  • Differenzierung nach Disziplinen und Forschungsfeldern (denn in manchen ist es wesentlich leichter als in anderen, viele Publikationen zu „produzieren“, auch bei gegebener Qualität des Publizierten);
  • Beurteilung (auch) nach Inhalt des Publizierten, nicht (nur) danach, wo es publiziert wurde;
  • realistische Benchmarks (vier Publikationen pro Jahr, der inoffizielle Richtwert meiner Institution, ist da vermutlich überzogen);
  • weniger einseitige Fokussierung auf Fachartikel (gegenüber Büchern oder anderen Formen der Kommunikation seiner Forschungsergebnisse);
  • sowie genereller, auf einer höheren Ebene: stabilere Beschäftigungsverhältnisse und konkretere Karriereperspektiven für Nachwuchswissenschaftler*innen, die allzu häufig in einem Hamsterrad gefangen sind (dies ist allerdings ein Thema für einen eigenen Blog-Beitrag).

Fußnoten

  1. Streng genommen ist „addieren“ in diesem Kontext ein irreführendes Wort, denn Wissen als Gesamtheit ist nicht einfach die Summe der „Einzelteile“, sondern hat vielmehr Eigenschaften eines emergenten Phänomens – durch das Zusammenkommen der vielen kleinen Beiträge kommt etwas qualitativ Neues zustande, was wir dann „Wissen“ nennen.
  2. Ein Beispiel aus der eigenen Forschung: meine, so wie es aussieht, bald mit Abstand am häufigsten zitierte Publikation ist definitiv nicht meine beste – aber es ist ein (nicht allzu innovatives) Überblickspaper zu einem sehr trendigen Thema; meine in meinen eigenen Augen bisher beste, qualitativ höchstwertige Publikation wird hingegen bisher gar nicht zitiert, womöglich (sofern meine subjektive Einschätzung ihrer Qualität zutreffend ist), weil sie sich mit einer Nischenthematik befasst. Und da Zitationen ebenfalls wichtig sind (Stichwort h-Index), habe ich somit eigentlich einen Anreiz, eher auf Publikationen von der Art der Ersteren zu setzen.
  3. Hierbei helfen, das sollte nicht unerwähnt bleiben, innovative Ansätze wie das Vor-Publizieren von experimentellen Designs oder Zeitschriften, die darauf spezialisiert sind, Daten zu veröffentlichen.

2 Gedanken zu “Publikationsdruck und die Qualität der Forschung

  1. Interessanter Artikel. Und ja, ich stimme zu: Bücher sind auch in Zukunft nicht aus dem wissenschaftlichen Diskurs wegzudenken. Der immer größer werdende Zwang zur Fließbandproduktion von ‘Papers’ ist in meinen Augen eine Fehlentwicklung, zumindest in den Sozial- und Kulturwissenschaften.

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